Dr. Hans-Peter Boschert | Foto: Tom Weller
Turn-Team Deutschland

Mannschaftsarzt Dr. Hans-Peter Boschert

Einer der erfahrensten Olympiafahrer im Team

Zwischen Expressdiagnose und Needle-Policy

Die Frage nach der am meisten bei Olympia nachgefragten medizinischen Leistung bringt Dr. Hans-Peter Boschert kurz zum Grübeln. Doch dann muss der Mannschaftsarzt des Deutschen Turner-Bundes schmunzeln.

Ja, eine Problemstellung sei tatsächlich häufig vertreten: "Kannst du mal schnell schauen?", lacht der 63-jährige Schwarzwälder.

Der Wunsch nach der Expressdiagnose sei auf jeden Fall die ihm am häufigsten gestellte Frage.

Besondere Atmosphäre: Olympisches Dorf

Aus medizinischer Sicht machten die Ringe keinen Unterscheid. "Auch die Wettkämpfe selbst unterscheiden sich bei Olympischen Spielen nicht von Europameisterschaften oder Weltmeisterschaften. Der Ablauf ist immer der gleiche", sagt Boschert. Die ganz besondere Atmosphäre dagegen schon: "Olympia ist natürlich immer besonders. Man wohnt im Olympischen Dorf. Man ist mit vielen Sportarten und mit sehr vielen Nationen in einer Art Blase drin, wo man sich auch trifft, meistens in der Mensa", erzählt er. Oder man sitze eben in seiner Unterkunft zusammen.

"Die Mannschaften haben meistens Appartements mit jeweils Einzel- und Doppelzimmern und da gibt es auch eine Lounge. Da verbringt man dann eigentlich zwischen Training und Wettkampf seine Zeit. Denn sonst kann man im Dorf so nicht so viel machen, außer, wenn man mal ein bisschen laufen geht oder das Fitnessstudio im Dorf nutzt", beschreibt er den eher wenig spannenden Olympia-Alltag. Außer Dorf, Trainingshalle und der eigenen Wettkampfhalle sehe man von Olympia und seinem Flair nicht besonders viel. Rauskommen sei selten. "Und wenn, dann höchstens vielleicht mal für einen halben Tag", bedauert er.

Das olympische Dorf ist nach Boscherts Ansicht ein Dorf im wahrsten Sinne, man kennt sich: "Gerade Kollegen, Physiotherapeuten, aber auch Mannschaftsärzte aus anderen Nationen", sagt Boschert, der seit Sydney 2000 das Turn-Team Deutschland bei allen Olympischen Sommerspielen außer in Tokio 2020/21 betreut hat. Treffe man in einer Halle aufeinander, spreche man sich schon einmal ab. "Wie sieht es aus? Hast du heute Abend mal Zeit? Ich komme mal bei euch vorbei. Oder kommst du mal bei mir vorbei?", erzählt er. Und dann stehe fachsimpeln über Turnen oder Medizin nicht mehr ihm Fokus, sondern es werde sich gerne über private Dinge ausgetauscht. "Wie lange willst du denn noch machen? Wann willst du denn in Rente gehen? Was hast du dann vor? Solche Sachen eben", verrät er.

MAN(N) TRIFFT SICH IM OLYMPISCHEN DORF

 

"Wie sieht es aus?

Hast du heute Abend mal Zeit?

Ich komme mal bei euch vorbei.

Oder kommst du mal bei mir vorbei?"

 

Im Vorfeld alles klar

Dabei hätte der frühere Reck- und Barrenspezialist mit Bundesligaerfahrung aus den Achtzigern auch zum Thema Turnen einiges beizutragen. Großartige taktische Besprechungen oder Aufstellungspoker wie man es aus den Ballsportarten kennt, hat er bei Olympischen Spielen oder Weltmeisterschaften noch nicht erlebt. "Eigentlich ist schon immer alles klar und im Vorfeld besprochen. Da gibt es die Nominierung, die Entscheidung, welcher Turner fährt mit, wer wird Ersatzmann", sagt er.

Teil der Mannschaft – und doch auf der Tribüne

Doch auch wenn Boschert sich selbst als Teil der Mannschaft sieht, sitzt er bei Olympia meist auf der Tribüne. Die Stunde des Mannschaftsarztes schlägt nur dann, wenn der Verletzungsfall eintritt. So wie zum Beispiel 2016 bei Andreas Toba. "Ich habe gesehen, der knickt um. Ich hatte schon den Verdacht, dass da etwas schwerwiegender sein kann, bin natürlich gleich runter in die Arena gelaufen", erinnert er sich. Dort sei ihm bereits der damalige Wettkampfarzt des Internationalen Turnverbands, Michel Léglise, entgegengekommen. "Der wollte wissen, was los sei. Und ich habe gesagt, eventuell Kreuzband. Dann sei Toba raus, habe Léglise geantwortet", sagt Boschert.

Er habe gerade anfangen wollen, darüber zu diskutieren, als der Franzose Samir Ait Said sich beim Sprung den Unterschenkel gebrochen habe. Léglise sei daraufhin davongeeilt. "Da stand ich da und wir mussten das selbst entschieden", erzählt er. Schließlich trage er als Mannschaftsarzt am Ende die Verantwortung. Boschert sprach mit Toba, der unbedingt noch das Pauschenpferd turnen wollte. Im Dialog mit dem Turner habe er entschieden, mit einem stabilen Tape-Verband sei es noch zu verantworten, eine Pauschenpferd-Übung zu turnen. "Da kann eigentlich nichts passieren. Wie es dann ausgegangen ist, das wissen wir ja alle. Er hat Pauschenpferd geturnt. Es ist nichts passiert. Er hat der Mannschaft das Finale gerettet", erzählt er.

Du spinnst wohl!

Wie besonders aber die Situation damals war und wie hoch die Emotionen in einer olympischen Arena kochen können, zeigt eine andere, weniger bekannte Facette der Geschichte über den "Hero de Janeiro". Cheftrainer Andreas Hirsch, erinnert sich Boschert, sei danach völlig nervös und aufgeregt auf ihn zugekommen, in dem festen Glauben, Toba könne so nun auch noch an den Ringen turnen. Da holte Boschert den Berliner erst einmal wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. "Du spinnst wohl, nur über meine Leiche", zog er da nach eigener Erinnerung umgehend seine Veto-Karte im Sinne der Gesundheit des angeschlagenen Turners.

Denn auf sich selbst spürt Boschert in solchen Fällen meist keinen besonderen Druck lasten. "Letztendlich sind es medizinische Entscheidungen. Da spielt es dann keine Rolle, ob Olympia, Weltmeisterschaft oder Deutsche Meisterschaft", betont er. Natürlich ist aber auch einem Mannschaftsarzt bewusst, dass die Olympischen Spiele oftmals den Höhepunkt einer Turnkarriere darstellen. "Viele Turner schaffen es, wenn überhaupt, nur ein einziges Mal zu Olympia", weiß auch Boschert.

"Wenn es sich dann um Dinge handelt, wo man in der Regel sagen würde, schon dich lieber mal und mache eine Woche Pause, dann muss man dort situativ entscheiden", sagt der Mediziner. Bei Olympia nehme er daher schon einmal etwas mehr an Beschwerden oder Schmerzen in Kauf, als er das in der Regel tun würde. "Aber letztendlich muss der Mannschaftsarzt das verantworten können. Wenn ich das aus medizinischer Sicht nicht verantworten könnte, dann würde ich auch abraten. Beziehungsweise dann auch klar sagen, nein, geht nicht, sorry."

Die "No-Needle-Policy"

Auch um andere Dinge muss sich Boschert hinter den Kulissen kümmern. Nach den Spielen 2012 zum Beispiel war plötzlich auf die "No-Needle-Policy" zu achten, die den Ärzten die Benutzung von Spritzen rund um die olympischen Wettkämpfe zunächst verbot. "Der Auslöser war damals der chinesische Mannschaftsarzt, der in der Wettkampfarena am Pauschenpferd dem chinesischen Turner ein Lokalanästhetikum ins Handgelenk injiziert hat, damit er turnen konnte. Denn der hatte offensichtlich Schmerzen und konnte nicht stützen", erzählt Boschert. Das Problem war, dass er dies vor laufender Kamera tat. Das rief natürlich das Internationale Olympische Komitee (IOC) und die Internationale Anti-Doping Agentur (WADA) auf den Plan. "Und dann haben sie danach diese Needle-Policy eingeführt", sagt er.

Boschert und seine Kollegen wehrten sich jedoch dagegen, denn: "Wir haben gesagt, wir müssen doch die Möglichkeit haben, in einem Notfall auch mal eine Injektion setzen zu können", fand auch der deutsche Mannschaftsarzt diesen Sprung der Organisationen zu weit. Die beiden Gralshüter des olympischen Fairplay ruderten danach zurück, aus der No-Needle-Policy wurde die Needle-Policy. "Das heißt, man kann wieder Spritzen verabreichen. Man muss es aber nach medizinischen Gesichtspunkten begründen können, warum und wieso der Sportler jetzt eine Injektion braucht. Und dann ist es auch erlaubt", erklärt er. Das lästige Ausfüllen eines DIN A4-Blatts einschließlich ellenlanger Begründung nimmt Boschert dafür stoisch in Kauf.

Auf seinen Job als Mannschaftsarzt hat der Allgemein- und Sportmediziner, der in Freiburg und im südafrikanischen Pretoria (Medical University of South Africa) studiert hat, sich nicht beworben. "Ich wurde angesprochen. Ich war ja Turner und der Mannschaftsarzt vor mir, das war Dr. Hubmann, hatte damals die DTB-Junioren betreut. Und parallel Bob, Schlitten und Leichtathletik", erinnert sich Boschert. Dem sei das irgendwann alles zu viel geworden. "Du bist doch ehemaliger Turner, hättest du keine Lust, die Turner zu übernehmen?", habe er gefragt. Boschert willigte ein.

"Und 1990 habe ich das von ihm übernommen."

1990: Der erste Wettkampf als Mannschaftsarzt

An seinen ersten Wettkampf als Mannschaftsarzt erinnert er sich noch heute sehr genau. "Am 9. Oktober 1990 in Ries. Ein U18-Länderkampf gegen Bulgarien", sagt er. 1994 sei er dann zum ersten Mal bei den Senioren zum Einsatz gekommen. "Allerdings als Wettkampfarzt bei den Weltmeisterschaften in Dortmund. Mannschaftsarzt beim DTB war damals noch Heinz Lohrer", erzählt Boschert. Der habe sich aber 1996 nach den Spielen in Atlanta aus der Betreuung mehr oder weniger zurückgezogen. "Also habe ich auch noch die Senioren übernommen. Und das mache ich bis heute."

In Rente gehen …?

Wie lange er den Job noch machen will? Diese Frage bringt Boschert erneut zum Schmunzeln. "Das hängt davon ab, wie lange sie mich noch ertragen", sagt er. Verschleißerscheinungen habe er jedenfalls noch keine bei sich entdeckt. Bis er Ende 2028 in Rente gehe, stehe er für das Team jedenfalls bereit. "Und danach? Mal schauen, dann habe ich ja eigentlich noch mehr Zeit. Da kann ich eigentlich ja auch weitermachen", lacht er. Zumindest so lange, bis irgendwann mal einer vom DTB oder wem auch immer auf ihn zukomme und sage, es wird jetzt mal langsam Zeit zu gehen.

AUSGABE        Olympia 03-2024 | Turn-Team Deutschland | Zwischen Expressdiagnose und Needle-Policy
AUTOR             Nils B. Bohl