Olympia-Kampfrichter Holger Albrecht | Foto: Minkusimages
Turn-Team Deutschland

Olympia-Kampfrichter Holger Albrecht

Einmal zu Olympia fahren und dann kannst du sterben

Geht es um die Olympischen Spiele, findet Holger Albrecht, sei der Unterschied zwischen Kampfrichter*innen und Athlet*innen gar nicht so groß. "Es ist der Höhepunkt im jeweiligen Zyklus. Der heißt ja nicht umsonst Olympia-Zyklus, weil es innerhalb dieser vier Jahre der höchste Wettkampf ist, den es zu erreichen gibt", erklärt er. Für beide gebe es spezielle Qualifikationsnormen, die es zu erreichen gelte. Und nur die besten der Welt erhielten ein Ticket. Und somit seien auch die Anzahl der Plätze für beide nur sehr begrenzt verfügbar. Nur dass die Olympiachancen für den Kampfrichter oder die Kampfrichterin zumeist noch geringer seien, als die für die Athletinnen und Athleten. "Im Prinzip gibt es pro Nation nur einen Kampfrichter", betont Albrecht.

Der nationale Verband, erklärt Albrecht, habe allerdings keinen direkten Einfluss darauf, welcher Kampfrichter oder welche Kampfrichterin zu den Spielen entsandt werde. "Er kann es weder vorschlagen, noch kann er es bestimmen. Er kann höchstens sagen, nein, den wollen wir nicht. Dann hat er allerdings gar keinen Kampfrichter vor Ort", sagt er. Für die Unparteiischen dagegen ist die Berufung gleichbedeutend mit dem Gewinn einer Meisterschaft. "Man weiß dann, man ist in den Augen des Weltverbands der beste Kampfrichter seines Landes", erklärt er. 

Holger Albrecht beim DTL-Finale Nachwuchs Turnen 2023. Foto Minkusimages

2008: Olympisches Debüt in Peking

Früher habe er daher immer gedacht: "Einmal zu Olympia fahren und dann kannst du sterben", schmunzelt Albrecht. Das habe er sich dann doch bald anders überlegt, zum Glück. Denn nach seinem Debüt in Peking 2008 kamen für den heute 65-Jährigen noch zahlreiche weitere Highlights hinzu. Auch in London 2012, Rio de Janeiro 2016 und Tokio 2021 erlebte der Diplomsportlehrer den Geist der Spiele - live und vor Ort. 

"Peking war natürlich nah an der Perfektion. Die ersten Spiele sind aber natürlich auch immer gefühlt etwas Besonderes. London war von seiner Organisation her fantastisch. Das Hotel war in der Nähe der Arena und man konnte das Ganze fußläufig machen. Dort gab es im Vorfeld auch Möglichkeiten, Karten zu relativ normalen Preisen zu kaufen, sodass wir auch ein paar andere Sportarten besuchen konnten", erinnert er sich. 

Persönlicher Höhepunkt: Rio de Janeiro

Rio sei dann vom Erlebnisaspekt her gesehen sein persönlicher Höhepunkt gewesen. Nicht nur wegen Fabian Hambüchens Titel am Reck. "Rio war, was zu erwarten war, im Vergleich zu Peking und London doch eher ein wenig lockerer organisiert. Niemand hat so richtig durchgeblickt, sodass man mit seiner Akkreditierung in fast allen anderen Sportarten auch reingekommen ist", sagt er. Die Spiele von Tokio dagegen seien völlig vom Corona-Virus dominiert worden. "Eigentlich durfte man das Hotel gar nicht verlassen. Wenn man aber sein Handy im Zimmer gelassen hat, dann konnte man wenigstens inoffiziell mal ein bisschen spazieren und an die frische Luft gehen. Gesehen hat man aber gar nichts. Außer Turnen", bedauert er. Wie das turnerische Regelwerk, so ist auch die Findung eines Olympia-Kampfrichters oder einer Olympia-Kampfrichterin eine kleine Wissenschaft. "Die turnerischen Noten enthalten ja Komponenten aus Schwierigkeit und Ausführung. Für beide gibt es entsprechende Kampfrichter. Die, die Schwierigkeit bestimmen, sind die sogenannten D-Kampfrichter. Die dürfen bei Olympia ausschließlich aus der Kategorie 1 sein, also der höchsten Kategorie, die es gibt.  Die E-Kampfrichter, die die Ausführung ermitteln, werden innerhalb dieser vier Jahre über ein sogenanntes Judges-Evaluation-System bestimmt", erklärt er.

Wie löst man ein Olympiaticket als Kampfrichter?

Um überhaupt ein Olympiaticket lösen zu können, muss ein Kampfrichter oder eine Kampfrichterin mindestens zwei oder drei für Olympische Spiele relevante Wettkämpfe gewertet haben. Außerdem müssen mindestens die Prüfungen für die höchsten Kampfrichterkategorien 1 und 2 erfolgreich absolviert worden sein. Und am Ende muss er bzw. muss sie zudem im Ranking seines Landes der/die Beste sein. "Wir haben Wettkämpfe, die relevant sind für die Olympia-Qualifikation, das sind die Weltmeisterschaften und die Weltcups, die der Olympiaqualifikation dienen. Alle diese Wettkämpfe, die in dem Zyklus stattfinden, werden herangezogen", erklärt er.

Ist das Ticket für den Olympia-Zug dann erst einmal gelöst, ist das Schwierigste geschafft. Eine spezielle Vorbereitung braucht es dann nach Ansicht von Albrecht für die meisten Kampfrichterkolleginnen und -kollegen nämlich nicht mehr. "Bei der Ausführung muss man keine spezielle Vorbereitung machen, denke ich. Diese Kampfrichter werden ja auch vor Ort erst ausgelost. Sie wissen also im Vorfeld gar nicht, an welchem Gerät sie zum Einsatz kommen werden", sagt er. Natürlich könnte sich auch diese entsprechende Abzugstabellen noch einmal anschauen. "Aber meistens haben sie so viel Erfahrung, dass das gar nicht mehr notwendig ist", ist Albrecht überzeugt.

Am Boden in Paris

Sein Metier in Paris wird diesmal der Boden sein. Allerdings als D1- Kampfrichter für die komplexe Bestimmung des Schwierigkeitsgrades, der sogenannten D-Note. Aber auch dabei bleibt der gebürtige Sachse gelassen. "Ich habe natürlich den Vorteil gehabt, dass ich bei den Europameisterschaften in Rimini gerade schon auf dieser Position gewertet habe. So kenne ich zumindest schon mal in Europa alle Übungen, die am Boden so geturnt werden", sagt er. Es gebe zwar immer mal wieder Veränderungen, wenn zum Beispiel versucht werde, die Übung aufzustocken. Das Grundgerüst, auf dem sich der Turner oder die Turnerin bewege, bleibe ja immer bestehen.

Aber auch alte Hasen wie Albrecht bieten solche Wettkämpfe noch Herausforderungen. "Am Boden sind wir ja jetzt schon mittlerweile so weit, dass ein Doppelsalto mit dreifacher Längsachsendrehung geturnt wird. Den von einem Doppelsalto mit zweifacher Längsachsenbewegung zu unterscheiden, das ist schon schwierig", räumt er ein. Da sei es schonmal gut, wenn man vorher genau wisse, welcher Turner so etwas überhaupt turnen könnte.

Einen Hinweis darauf vom Athleten, der Athletin oder Trainer*in bekommt Albrecht meistens nicht. Allerdings checkten die ihre Übung gerne nach dem Podiumtraining noch einmal gegen. "Die Trainer haben hin und wieder die Frage, wie hoch denn der von mir ermittelte Ausgangswert ist. Wenn es da Abweichungen gibt zu dem von ihnen erwarteten Ausgangswert, wollen sie oft wissen, was nicht anerkannt worden ist. Da gibt man dann schon mal Hinweise und sagt, okay, also das war jetzt in der Abweichung zu groß, so kann man das Element mit dem Wert nicht anerkennen", verrät Albrecht. Im eigenen Team gestaltet sich die Kommunikation bei Olympia oft etwas schwieriger als bei einer WM oder einem Weltcup. "Athleten und Trainer sind im olympischen Dorf untergebracht, wir Kampfrichter sind das nicht", sagt Albrecht.

Der elektronische Kampfrichter

Dass Menschen wie ihn trotz aller Bemühungen bald bei Olympischen Spielen nicht mehr geben wird, darüber macht sich Albrecht keine Sorgen. Selbst wenn der elektronische Kampfrichter von Fujitsu bereits einsatzfähig zur Verfügung steht und das System auch entscheiden kann, was richtig und was falsch ist. "Der ermittelt genauso die Zielnote, wie ich das mache. In Echtzeit. Und sie haben alle Winkel drin", zeigt sich Albrecht beeindruckt von seinem elektronischen Kollegen: "Wenn ich sage, das Element wird bis 45 Grad als Element anerkannt, dann ist es für mein Auge schwierig zu sagen, ob das jetzt 44 oder 46 Grad waren. Aber Fujitsu kann das sagen", räumt er ein. 

Obwohl das System schneller und genauer ist und auch kein eigenes Hotelzimmer benötigt, glaubt er nicht daran, dass Kampfrichter oder Kampfrichterinnen in Kürze bei Olympia auf der Roten Liste landen. "Ich denke, das wird erstmal alles so in dem Rahmen bleiben, dass das als Kontrollsystem fungiert. Das System ist noch so teuer und aufwendig, dass man das bestenfalls bei einer Weltmeisterschaft und bei Olympischen Spielen einsetzen kann", ist er überzeugt.

Schon deswegen macht sich Albrecht auch bereits um seine Nachfolger Gedanken. Denn die Spiele von Paris sollen für ihn die fünfte und letzte Olympiateilnahme werden. "Zum jetzigen Zeitpunkt habe ich so entschieden, dass ich zum interkontinentalen Kurs Anfang Dezember zwei jüngere Kampfrichter, die später auch die Zukunft für Deutschland sein sollen, schicke. Dieser Kurs ist eine Voraussetzung für die Teilnahme bei Olympia", erklärt Albrecht. Ganz mit der geliebten Kampfrichterei aufzuhören, daran denke er zum jetzigen Zeitpunkt allerdings noch nicht.

"Aber sagen wir es mal so, Olympia 2028 ist kein Ziel mehr für mich", betont er.

AUSGABE        Olympia 03-2024 | Turn-Team Deutschland | Olympia-Kampfrichter Holger Albrecht
AUTOR             Nils B. Bohl