Medaille zum 1. Deutschen Turnfest in Paris 1865. Ausführung in Silber von W. Kaufmann. | Foto: Privatbesitz
Fundstück

Der Deutsche Turnverein zu Paris und das Turnfest von 1865

"deutsches Wesen und deutsche Sitte in Frankreich einzuführen"

"Wir haben jetzt ein verkleinertes Bild von den Olympischen Spielen vor dem Hallischen Thore. Durch die Thätigkeit und das umsichtsvolle Bestreben des Dr. Jahn, Verfasser des bekannten Werks: Volksthum, haben sich die jungen Leute von einem hiesigen Gymnasium vereint, auf einen freyen Platz ein Gehege gezogen, und die nöthigen Anstalten getroffen, sich im Ringen, Springen, Laufen, Klettern und allen Bewegungen, welche dem Körper Gleichgewicht und Gewandtheit geben, zu üben. Dies geschieht … oft vor einer bedeutenden Zahl von Zuschauern." (Morgenblatt für gebildete Stände, Jena. Nr. 192, 11. 8. 1811. Zit. in: Steins, Gerd: Wo das Turnen erfunden wurde… Berlin 1987, S. 36.)

Turnfeste mit den antiken Olympischen Spielen zu vergleichen war einem an klassischer Lektüre geschulten Publikum des 19. Jahrhunderts durchaus geläufig. Das Zusammentreffen der Kämpfer zu friedlichem Wettstreit war nach der Wiederbelebung Ende des 19. Jahrhunderts besonders populär. Viele Vereine führten ihre eigenen "Olympischen Spiele" durch. In diesem Zusammenhang darf an das im Jahr 1865 stattgefundene Deutsche Turnfest in Paris erinnert werden.

Anmerkung des Autors:
Die folgende Darstellung beruht überwiegend auf Artikeln aus der Deutschen Turnzeitung der Jahre ab 1865, ergänzt durch Abbildungen aus der Illustrirten Zeitung von 1865.

Titelbild: Medaille zum 1. Deutschen Turnfest in Paris 1865. Ausführung in Silber von W. Kaufmann. Privatbesitz.

Der Deutsche Turnverein in der französischen Hauptstadt war im September 1863 gegründet worden, "meist von Turnern, die sich im Londoner Vereine kennen gelernt und in Paris wieder gefunden hatten ...". Was hier vermutet werden kann und sich durch den Festbericht bestätigen wird: Der Deutsche Turnverein in Paris ging auf eine Initiative von Exilanten zurück, meist Teilnehmern der Revolutionen der Jahre 1848 und 1849, denen eine Rückkehr in die Heimat verwehrt war. Durch das erfolgreiche Beispiel der Londoner Turner ermutigt, entschloss sich der noch junge Verein, an Pfingsten 1865 ein großes internationales Turnfest durchzuführen. Einladungen ergingen über die Deutsche Turnzeitung und große Tageszeitungen.

Ein "deutsches" Turnfest im politischen Zentrum des "Erbfeindes" musste natürlich Kritik hervorrufen. E. Sonne aus Hannover äußerte Bedenken, eine größere Beteiligung deutscher Turner könne als "eine Verherrlichung der `großen Nation´" verstanden werden. Dabei ging es dem Festausschuss doch hauptsächlich darum, "durch das Fest dem deutschen Turnen im Auslande Glanz und Ansehen zu verleihen." Auch der Ausschuss der Deutschen Turnvereine – die Deutsche Turnerschaft wurde erst 1868 gegründet – war aufmerksam geworden. Nachdem schon viele Vereine, besonders entlang der Rheinschiene, ihr Interesse bekundet hatten, meinte der Schwabe Theodor Georgii, es "wäre doch gar nicht übel, wenn wenigstens einige Hundert anrückten, und den Parisern ein gelungenes Bild des deutschen Turnens, in richtiger Vertretung seiner verschiedenen Seiten, vorgeführt würde."

Die Organisatoren hatten sogar Preisermäßigungen bei den französischen Ostbahnen erwirken können.

Über den Festverlauf liegen ausführliche Berichte vor. Die Auswahl des Festortes im Bois de Boulogne war dem Entgegenkommen der französischen Behörden zu verdanken.

Die vor Festbeginn "in hellen Schaaren aus allen Gauen Deutschlands, aus der Schweiz und England" anreisenden Gäste wurden von wolkenbruchartigen Regengüssen erwartet. Doch rechtzeitig zum Festbeginn "brach am Nachmittage der Sonnenstrahl plötzlich durch das schwarze Gewölk, die Fahne vergoldend und verklärend, die unser alter Freund Buhl aus [Schwäbisch] Gmünd den Turnern vortrug." Wie beim Leipziger Turnfest des Jahres 1863 stand dieses Fest im Zeichen der "deutschen Trikolore" Schwarz-Rot-Gold, die seit dem Wartburgfest des Jahres 1817 das Symbol der demokratischen Opposition war, aber auch das Zeichen für die nationale Einheit, die es noch zu erringen galt. So wurde das Fest zur „patriotischen Veranstaltung", das „dem Franzmanne" zeigen sollte, "dass wir uns doch als e i n e Nation, als e i n Volk fühlen und stolz darauf sind, deutsches Wesen und deutsche Sitte in Frankreich einzuführen."

Deutsche Überheblichkeit sei aber nicht angebracht, wisse man doch zu gut, dass in Frankreich Vieles besser sei.

Die Auswahl des Festplatzes konnte nicht besser sein: "Das Prê Catalan ist ein großer eingefriedeter Platz voller grüner Rasenplätze und schattiger Laubgänge [!] mit Theater- und Concerträumen. Mitten im Bois de Boulogne liegend, gehört er mit zu den prächtigsten der hiesigen Gärten und faßt Tausende von Menschen, die sich mit der größten Bequemlichkeit darin bewegen können. Hier war ein geräumiger schöner Platz, der von 1500 Stühlen umstellt war, zum Turnen eingerichtet. 2 Recke, 3 Barren, mehrere Springel [Pferde], Böcke, ein vollständig ausgerüstetes Klettergerüst u.s.w. waren so aufgestellt, daß man sie zugleich von allen Punkten des äußeren Kreises aus sehen konnte, ohne daß ein Geräth das andere in der Aussicht deckte."

Eine eigens erbaute Holztribüne war geschmückt mit schwarz-rot-goldnen Fahnen, ein Portait des "alten" Jahn blickte auf die Turner, daneben "erhob die Germania drohend das Schwert gegen Jeden, der unser herrliches Vaterland anzugreifen wagte.“

"Auch das französische, englische und schweizer Banner waren nicht vergessen, aber weit über diese hinaus ragte das Sternenbanner,
im schwarzen Flore trauernd über seinen verlorenen besten Sohn, uns Alle erinnernd an unsere wackeren deutschen Brüder da drüben,
die eben siegreich aus heiligem Kampfe um Menschenrechte zurückkehrten."

An der Festgestaltung beteiligte sich der deutsche Gesangverein und ein Orchester.

Die turnerische Gesamtleitung lag in den Händen des Dozenten Dr. Zöppritz aus Tübingen, ein früherer "Anmann" des Pariser Vereins. Über den Gesamtverlauf liegt eine dichte Beschreibung vor, auf deren Details hier nicht Bezug genommen werden kann. Folgende Punkte verdienen jedoch Erwähnung:

Es turnten viele junge Franzosen mit, die, zusammen mit sechs „Fremdenriegen“ aus Deutschland, England, Österreich, der Schweiz und dem Elsass den Einmarsch und die Freiübungen tadellos absolvierten, obwohl, wie lobend erwähnt wurde, das Kommando in Deutsch erfolgte. Besonderes Aufsehen erregten durch ihre turnerischen Leistungen die Mitglieder der (Pariser) Schweizer Turngesellschaft und die Turner aus dem elsässischen Gebweiler (heute Guebwiller). Von den Deutschen, von denen weitere Namen überliefert sind, sei hier wegen seiner Erstaunen erregenden Vorführungen der Turner Eichelsheim aus Siegen erwähnt.

"Vor allem aber müssen wir hier die Leistungen des Turnlehrers Baßler aus Guebweiler hervorheben,
Leistungen, die von keinem der übrigen Turner nur nachgeahmt werden konnten."

Beachtung verdient auch das Liedgut am ersten Tag: "Turner auf zum Streite", "Das Lied der Deutschen in Lyon" (von Mendelssohn), "Auf Ihr Brüder laßt uns wallen" (von Stuntz) und "Des Kriegers Gebet" von J. Lachner, "Normanns Sang" (von Kücken) und endlich "Was ist des Deutschen Vaterland" (von E. M. Arndt, vertont von Reichardt).

"Denn das Singen ist auch ein Teil der Turnerei", wurde vom Berichterstatter festgehalten.

Ein großer Kommers mit mehr als 800 Teilnehmern am Freitag, dem 26. Mai, vereinigte die Turner im Elysée Montmartre. Auch hier dominierten bei der Ausschmückung die "nationalen" Symbole, die Germania, deutsche, schweizer und amerikanische Fahnen. Wir erfahren, dass das Portrait des "alten Jahn" ein Geschenk des Berliner Malers Engelbach war. Der ehemalige Bonner Professor Gottfried Kinkel war in Begleitung einiger Freunde aus dem englischen Exil angereist. Er hatte eigens ein "Bundeslied" gedichtet, das hier zum ersten Mal vorgetragen wurde. Es kündet von Einigkeit, vom Schutz der Trikolore, die dem Exilanten "Lieb´ und Heimat" gegeben habe. Er ließ Frankreich hochleben, das, den Deutschen voraus, das Banner "zum Kampf der Freiheit" geschwungen habe. Die Versammelten ließ er schwören, auf das Symbol von Freiheit und Einheit, auf die Fahne Schwarz-Rot-Gold, "Nie im Kampf geruht, / Bis sie über Deutschland sich entrollt!" Turnen brauche das "richtige Ziel", auf das im Verein, nicht zuletzt zusammen mit dem Bildungsverein, hinzuarbeiten sei; denn "starkes Muskelfleisch könne auch der Despotie dienen". Es folgten Ansprachen und Glückwunschadressen. Dr. Alphons Oppenheim aus Hamburg gedachte der anwesenden acht Exilanten, denen der Weg in die Heimat immer noch versperrt sei. Grußtelegramme aus mehreren deutschen Städten, aus Wien, Graz, Brüssel, Eupen und von der Concordia in Hâvre wurden verlesen. Toasts folgten, wobei der des "alten Buhl aus Stuttgart" besonders erwähnt wurde.

Zwei weitere Tage der Feiern folgten: Mehr als 500 Personen versammelten sich im Saal der Loge des "Grand Orient", wo Gottfried Kinkel einen 2 1/2-stündigen Vortrag hielt. Den vierten Festtag verbrachten die Turner mit ihren Familien mit Spiel, Gesang, Tanz und Reden im Wald von Meudon.

Der Schlusssatz der Ansprache, die der ehemalige Abgeordnete der Frankfurter Paulskirchenversammlung, Ludwig Simon aus Trier, am ersten Festtag hielt, verdient es festgehalten zu werden: "Und so schließe ich mit dem Wunsche einer dauernden Freundschaft zwischen beiden Nationen, deren beiderseitiger Genius zur Erreichung der höchsten Ziele der Humanität erforderlich ist. Friede und Eintracht zwischen Frankreich und Deutschland zum Heile der fortschreitenden Menschheit, sie leben alle Zeit hoch! – "

Ein Gedankenstrich zum Schluss, wahrlich ein Zeichen zum Nachdenken; denn hätten sich die Mächtigen der Zeit an den Idealen dieser Exilanten und nicht an denen der Antidemokraten und Imperialisten orientiert, beiden Völkern wäre in den folgenden Jahrzehnten viel Leid erspart geblieben.

Insofern ist dieses Deutsche Turnfest auch Ausdruck der olympischen Idee von friedlichem Wettstreit der Völker und Schwarz-Rot-Gold sind nicht allein die Farben der Nationalbewegung, sondern der Patrioten, die für Versöhnung, Einheit, Freiheit und Gerechtigkeit standen.

AUSGABE        Olympia 03-2024 | Historisches | Der Deutsche Turnverein zu Paris und das Turnfest von 1865
AUTOR             Dr. Lothar Wieser