Valeri Belenki, Cheftrainer Gerätturnen Männer | Foto: Picture Alliance
Turn-Team Deutschland

Valeri Belenki

Gold, Bronze & eine Fehlentscheidung

Gold, Bronze & eine Fehlentscheidung. Den Schmerz von damals kann Valeri Belenki nicht vergessen. "Es tut noch immer weh", sagt der Cheftrainer der deutschen Turner. 1992 war es, da stand der heute 54-Jährige noch selbst bei den Olympischen Spielen im Rampenlicht. Mit der Mannschaft der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) hatte er in Barcelona Gold im Teamwettbewerb gewonnen und im Einzel Bronze im Mehrkampf.

 

Doch an seinem Lieblingsgerät, dem Pauschenpferd, traf er zusammen mit seinem Trainer ein folgenreiches Urteil. Statt der Kürübung, die bei den beiden Auftritten zuvor so gut funktioniert hatte, präsentierte er im Finale eine schwerere Variante, und das Element, das er zusätzlich einbaute, ging daneben. Statt sich eine weitere, vielleicht sogar goldene Plakette umhängen zu lassen, musste er anderen dabei zusehen, wie sie auf das Podest stiegen.

"Ich weiß bis heute nicht, warum wir diese Entscheidung getroffen haben", sagt Belenki.
Die Erfolge zuvor zählten für ihn in diesem Augenblick nicht mehr.

Dabeisein ist alles?

Dass Dabeisein alles ist, mit diesem gerne zitierten Spruch kann Belenki wenig anfangen. Wenn man erst mal bei den Olympischen Spielen ist und Perspektiven für sich sieht, dann sollte man sich mit der reinen Teilnahme nicht begnügen. Als Trainer versucht er den eigenen Aktiven diese Haltung zu vermitteln, als junger Turner wusste er selbst nicht wirklich, ob er sich diesem Druck aussetzen sollte. Mit zehn, elf Jahren, schon in den nationalen Kader berufen, wollte das Bewegungstalent aus Baku die eigene Karriere sogar beenden. "Ich hatte keinen Spaß mehr und habe mich gefragt, wofür das alles gut ist." Dass er so wenig Zeit für anderes, für Freizeit habe. Er sei skeptisch gewesen, ob er bestehen würde im Konkurrenzkampf und dann die erwartete Leistung bringen würde. Aber dann habe er sich gesagt, warum andere das schaffen sollten und er nicht.

In der Sowjetunion und der späteren Nachfolgegemeinschaft zählten im Turnsport nur Siege. "Wer einen Fehler machte, durch den die Mannschaft nur Zweiter wurde, musste die Verantwortung übernehmen", erzählt Belenki. Zudem sei es bei den Berufungen nicht immer gerecht zugegangen. Cheftrainer Leonid Arkajew habe nicht nur nach Leistungskriterien die Formation aufgestellt.

Weltmeister mit dem Team und am Pauschenpferd

Belenki schaffte trotzdem den großen Sprung, war zweimal Team- und einmal Pauschenpferd-Weltmeister, bevor es für ihn zum Olympiadebüt nach Spanien ging. In der Pflicht, die damals noch existierte, musste er fast an jedem Gerät als Erster vor die Kampfrichter treten. Angeblich, weil Arkajew vorne einen stabilen Vorturner haben wollte.

"Aber als Erster hatte man damals keine Chance auf eine Finalteilnahme", sagt Belenki.


Sein Glück war im Nachhinein, dass Teamkollege Igor Korobtschinski, dem man als Weltmeister von 1989 bessere Chancen im Mehrkampf zusprach, von den Ringen abstieg und nach der Pflicht nicht mehr in Reichweite der Medaillen war. Die Riege sei danach umgestellt worden, und Belenki konnte wie die beiden späteren Erstplatzierten Witali Scherbo und Grigori Misjutin in die Entscheidung der besten Allrounder einziehen.

Das Olympische Dorf lag am Strand

"Barcelona waren die schönsten Spiele", sagt er rückblickend, Nicht allein aus sportlichen Gründen, "das Olympische Dorf lag am Strand". Man grillte und spielte dort zusammen und konnte so gut abschalten.

Die Möglichkeiten dafür haben im Laufe der Jahre zugenommen. Heute warteten meistens große Kantinen mit Speisen aus aller Welt auf die Aktiven und ihre Betreuer. "In Rio hat es aber nicht so gut geschmeckt", erinnert sich Belenki. In den oft sparsam eingerichteten Zimmern dürften die Bewohner die extra für die jeweiligen Spiele gestalteten Bettdecken mitnehmen, und es gebe im Dorf viel mehr Angebote als früher, um den Kopf freizubekommen.

Der DTB-Pokal und der deutsche Großvater

In Atlanta 1996 wohnten die Sportler in einem Studentenwohnheim, "das war nicht so toll", sagt Belenki. Damals zählte der gebürtige Aserbaidschaner bereits zum deutschen Turn-Team. Beim DTB-Pokal in Stuttgart 1988 hatte er dem früheren Reckweltmeister Eberhard Gienger beim Bankett von seinem deutschen Großvater erzählt. Daraufhin wurde Belenki erst ins Bundesliga-Team der Schwaben eingeladen und wechselte später auch komplett die Nation. "Das hat mir so viele Chancen eröffnet", sagt er dankbar. "In Aserbaidschan hätte ich meine Karriere so nicht fortsetzen können, da hätte ich mir selbst helfen müssen." 

Rang sieben mit dem Team und Platz sechs im Mehrkampf waren seine Resultate in den USA. An seinen beiden starken Geräten Pauschenpferd und Barren verpasste er nach Fehlern die Finals. Es sollte sein letzter Auftritt als Aktiver bei den Spielen bleiben. 2000 in Sydney war er nicht dabei, weil er und die Mediziner sich nach langem Hin und Her erst spät dazu entschieden, die lädierte Schulter zu operieren. Drei Monate reichten nicht, um sich fit genug für eine Qualifikation zu machen.

Rückkehr als Coach

2012 kehrte Belenki als Coach zurück auf die wichtigste Bühne, an der Seite des damaligen deutschen Cheftrainers Andreas Hirsch und mit dem eigenen Athleten Marcel Nguyen in der Riege.

Vorausgegangen war eine Vorbereitung, in der Belenki den Barrenspezialisten davon überzeugen musste, im Mehrkampf anzutreten. Immer wieder habe dieser kneifen wollen, auch weil er das Lieblingsgerät seines Trainers deutlich weniger schätzte, Pauschenpferd stets die große Schwäche des Unterhachingers bleiben sollte. "Wie eine Betonwand", sagt Belenki, habe er damals agieren müssen; die Einwände des Sportlers prallten ein ums andere Mal ab. Er möge es doch einfach versuchen, er werde es schaffen, wiederholte er stetig. Das blieb auch so, als der scheinbar überzeugte Turner bei der Abreise nach London doch wieder vom Sechskampf zurücktreten wollte. Die Teamkollegen Fabian Hambüchen und Philipp Boy seien doch sowieso besser als er, musste Belenki sich anhören.

Am Ende wagte Nguyen die Herausforderung und überraschte mit Silber, gefolgt vom Edelmetall gleicher Farbe an den beiden Holmen. "Vielleicht wäre es sogar Gold geworden, wenn er besser gelandet wäre", sagt sein Coach.

"Aber ich war sehr stolz auf ihn."

Ein einziges Zehntel war dann daran schuld, dass Nguyen vier Jahre später in Rio den Einzug in die Entscheidung am Barren verpasste. Zuvor hatte es viel Aufregung gegeben: Der Hannoveraner Andreas Toba verletzte sich in der Qualifikation am Knie und trat trotzdem noch am Pauschenpferd an, um seiner Mannschaft beim Kampf um das Teamfinale zu helfen. "Es macht etwas mit dir, wenn das deinem besten Freund passiert"; sagt Belenki mit Blick auf den eigenen Sportler. Die Krönung der Turnwettkämpfe ist hinlänglich bekannt: Hambüchen gewann Gold am Reck. Belenki zollt dem Wetzlarer, der im Vorfeld mit massiven körperlichen Problemen zu kämpfen hatte, dafür und für seine vielen anderen überzeugenden Vorstellungen sehr viel Respekt.

"Fabi hat nie aufgegeben und in Rio bewiesen, dass dieses Gerät ihm gehört."

FÜNF JAHRE SPÄTER ...

.. die Pandemie hatte für eine Verschiebung gesorgt, stand er selbst als Chef in Tokio in der Halle. 

Die Tage in Japan fingen nicht gut an. Gleich zum ersten Training kamen die DTB-Männer zu spät. "Es gab Probleme mit den Bussen", erinnert Belenki sich, und als die Truppe endlich an der Halle angelangt war, wollte man sie nicht reinlassen. "Unsere Akkreditierungen galten auf dieser Seite nicht", und die Delegation habe die Arena ein halbes Mal umrunden müssen, um hineinzukommen.

Olympische Spiele mit Hindernissen

Auch sonst lief der Transport oft nicht gut. Den Erfolg verhinderte das nicht: In der Qualifikation sprang erneut ein Platz im Teamfinale heraus, Philipp Herder und Lukas Dauser standen in der Mehrkampfentscheidung, und Letzterer holte Silber am Barren.

Den Entschluss, nur einmal als Verantwortlicher bei Spielen an der Seite zu stehen, gab Belenki damit auf. Auch in Paris wird er diese Rolle wieder übernehmen.

Dass er es als Trainer entspannter angehen könne, dem widerspricht er. Nachts mache man sich ständig Gedanken, wie man die Mannschaft aufstelle, wen man was und wann turnen lasse. Dazu kommen weitere nicht vorhersehbare Ereignisse wie jenes in Rio, als die Turner im 18. Stock wohnten und es mehrmals Feueralarm gab. "Wir mussten dann alle Stockwerke zu Fuß nach unten und wieder hoch gehen, weil der Aufzug nicht funktionierte." Vor dem Wettkampf sei es allerdings, entgegen Belenkis Befürchtungen, ruhig geblieben.

Erst wenn die eigenen Wettkämpfe vorbei sind, könne auch er die Spiele genießen. Doch so besonders wie früher empfindet er sie nicht mehr. "Ich bin schon so viel unterwegs gewesen", sagt Belenki. Natürlich seien die olympischen Events größer und bedeutender als alles andere.

"Aber mir ist es nur wichtig, dass alles klappt und wir Erfolg haben."

AUSGABE        Olympia 03-2024 | Turn-Team Deutschland | Gold, Bronze & eine Fehlentscheidung
AUTORIN         Katja Sturm