Darja Varfolomeev im Klassenraum | Foto: Picture Alliance/Frank May
Einblicke

Darja Varfolomeev auf dem Weg nach Paris

Darjas Superkraft

Darja Varfolomeev war noch niemals in Paris. Den Eiffelturm kenne sie nur von Bildern und Postkarten, erzählt die 17-Jährige im Gespräch. Das ist doch ziemlich überraschend, wenn man bedenkt, was diesen Sommer genau hier, am Austragungsort der Olympischen Spiele 2024, mit ihr passieren könnte:

Am 8. und 9. August soll Paris sie kennenlernen.

An diesen beiden Tagen ist der Mehrkampf in der Rhythmischen Sportgymnastik terminiert. Darja, amtierende Mehrkampf-Weltmeisterin, zählt zu den großen Favoritinnen. Sie könnte und sie will in der Stadt, in die jeder irgendwie verliebt ist, selbst wenn er noch nie da war, eine Medaille gewinnen.

Eine deutsche Olympiasiegerin in der Rhythmischen Sportgymnastik hat es noch nie gegeben. Noch so eine Vorstellung, die man nicht mehr aus dem Kopf bekommt.

Eine wie Darja Varfolomeev hat es hierzulande eben auch noch nicht gegeben. Ihre Geschichte trägt Züge eines modernen Märchens. Nur ist sie eben kein Schneewittchen, dem sieben Zwerge hilfreich zur Seite stehen, sondern eine, die schon als Kind den Mut aufbrachte, sich ganz allein auf den Weg zu machen - mit dem Ziel Olympia. Geboren im westsibirischen Barnaul emigrierte Darja 2019 mit gerade mal zwölf Jahren nach Deutschland. Sie kam zunächst ganz alleine, sie sprach die Sprache nicht, kannte weder das Land noch seine Kultur, aber sie besaß einen deutschen Pass. Den hatte sie ihrer Mutter Tatjana zu verdanken, einst selbst eine sehr talentierte Sportgymnastin. Auch sie war in den 1990er Jahren sehr jung (mit 16) nach Deutschland emigriert und hatte die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Aufgrund etlicher Verletzungen musste Mama Tatjana ihre Träume von einer großen Sportkarriere früh aufgeben, aber Darja weiß, was sie ihrer Mutter zu verdanken hat.

"Sie konnte ihre Ziele nicht erreichen. Ich führe heute ihre Karriere fort, auch deshalb bin ich so ehrgeizig",
sagt sie in fast perfektem Deutsch.

Ein Trainingsbesuch Anfang Mai, genau drei Monate vor Olympia im Nationalmannschaftszentrum Fellbach-Schmiden bei Stuttgart.

Ein ganz normaler Donnerstagmittag, die Sonne scheint durch die riesigen Fenster der Trainingshalle, von Schulpflichten ist Darja unmittelbar vor Olympia befreit. Sie trägt eine Art Deutschland-Trikot und arbeitet an ihrer neuen Ballübung. Die Choreographie ist neu, die fünf Risikoelemente sitzen noch nicht perfekt. Das aber ist die Definition ihrer Disziplin: der Perfektion nahekommen. Ihre Trainerin Yulija Raskina spielt die Musik ein, Michael Jackson flüstert "Touch me", dann legt Darja los. Während der Übung zeigt sie einen Moonwalk, so elegant und rhythmisch exakt wie sein Erfinder. "Schneller, Dascha", ruft Raskina im Mittelteil der Übung. Bei einem "Risiko", wie Yulija Raskina die Höchstschwierigkeiten nennt, wirft Darja den Ball unter die Hallendecke und dreht sich währenddessen zwei- statt der verlangten dreimal um die eigene Achse, bevor sie den Ball wieder fängt. "Risiko mit Verlust" nennt das ihre Trainerin. Will heißen: Im Wettkampf gäbe es dafür Punktabzug. Etwas später soll sie den Ball, der aus acht Metern Höhe angeflogen kommt, blind mit gestreckten Armen am Rücken fangen. Der Ball prallt unglücklich auf ihr ISG-Gelenk und springt im hohen Bogen durch die Halle. Ein dicker Patzer, der in Paris nicht passieren darf, sonst wären alle Goldchancen dahin. Darja ist enttäuscht und erschöpft zu gleich. Sie stützt sich mit ihren Händen auf ihren Knien ab, sie schnappt nach Luft. Ihre Augen glasig und rotgefärbt, sie sagt: "So macht das doch keinen Sinn …." Dann dreht sie sich um und beginnt wieder von vorne.

"Keine arbeitet so hart wie Dascha",
sagt ihre Trainerin Yulija Raskina.

Dascha - Ein Glücksfall für den DTB

Darja Varfolomeev ist in mehrfacher Hinsicht ein Glücksfall für den Deutschen Turner-Bund. Nicht nur, aber auch ihrer Erfolge wegen:

  • sechsfache Weltmeisterin,
  • zweifache Europameisterin,
  • Zweite bei der Wahl zur Sportlerin des Jahres 2023.

In den 1990er Jahren war auch Magdalena Brzeska ein deutscher Star, aber einen für die ganz großen Titel hatten sie hierzulande in der Rhythmischen Sportgymnastik noch nicht. Das Gesicht einer Sportart, die bisher vor allem ein Nischendasein fristete und das auf einmal über den Tellerrand ihrer Disziplin hinausstrahlt. Und plötzlich zeigt auch das Fernsehen Bilder von den großen Meisterschaften, Darja ist Interview-Gast im ZDF-Sportstudio, das Olympiamagazin "Paris.24" produziert eine zwanzigseitige Modestrecke mit ihr und macht sie zum Covergirl, über das wiederum andere Medien berichten und das bei Social Media trendet. Vom "Varfolomeev-Hype" (SWR) ist die Rede, der am besten noch ganz lange andauern soll.

Die übernächste Weltmeisterschaft in der Rhythmischen Sportgymnastik findet, als hätte man es sich wünschen dürfen, 2026 in Berlin statt. Das, was Darja ausstrahlt, ist auch deshalb so interessant, weil sie scheinbar Gegensätzliches vereint: Hier ist eine junge, moderne Frau, 17 Jahre jung, die Titelseiten ausfüllen kann und trotzdem jeden Tag mit bedingungsloser Hingabe an sich und ihrem Talent arbeitet. Ihr Ziel ist nicht in erster Linie der schöne Schein, sondern der Glanz einer Olympiamedaille, die am besten eine Goldene sein soll. Ihre Strahlkraft hat sich international herumgesprochen, auch BBC und CNN werden noch vor Olympia über Darja berichten, erzählt ihr Manager Klaus Kärcher.

Modeshooting mit Darja für das Olympiamagazin PARIS.24 - Aus Liebe zum Sport

Damit das alles so kommt, wie er und ihre über 40.000 Follower auf Instagram sich das erhoffen, verbringt Darja jeden Tag Minimum sechs Stunden in der Trainingshalle am Olympiastützpunkt in Fellbach. Zusammen mit Margarita Kolosov und Anastasia Simakova feilt sie an ihren Übungen mit den Handgeräten Reifen, Ball, Keulen und Band (die sogenannte olympische Reihenfolge).

Ihr gemeinsamer Trainingstag beginnt um halb neun Uhr morgens mit Ballettunterricht. Warmmachen, geschmeidig werden, Verbesserung der Koordination. Neben den typischen fünf Ballett-Positionen werden vor allem Arabesken und Pirouetten geübt. Nach 90 Minuten geht es zum Dehnen in die kleine Halle. Dort stehen im Abstand von knapp zwei Meter zwei große Holzkästen, Darja legt jeweils Ferse und Rist darauf ab und macht minutenlang einen Spagat, ehe sie ihre Beine wechselt. Ihr Rumpf biegt sich dabei so weit nach unten durch, dass ihre Füße über Augenhöhe steigen. Dann erst passiert das eigentliche Training mit den Handgeräten, zwischendurch wird getrunken, ein kleiner Snack: Müsliriegel, Power-Gels und Bananen. In einer kurzen Trainingspause zeigen die jungen Frauen nicht ohne einen gewissen Stolz auf die blauen Flecken an ihren Beinen - Leidensmale als Beweis ihrer Kunst. Die Rhythmische Sportgymnastik ist eine der arbeitsintensivsten und härtesten olympischen Disziplinen überhaupt.

Noch ist die Übung nicht goldwürdig, sagt Trainerin Yulija Raskina, aber noch sei auch "genug Zeit" bis Paris. 

Am Nachmittag gegen halb drei Uhr zeigt Darja ihre fünf Höchstschwierigkeiten mit den Keulen.

Auch diese Übung ist neu, ein großes Risiko so kurz vor Olympia. Eine neue Übung braucht Zeit, sie muss sich entwickeln, über Wochen und Monate. Es geht nicht nur um die sportliche, fehlerfreie Darbietung, Darja muss ihr Glanz und Ausstrahlung verleihen, um die Kampfrichter am Ende überzeugen zu können. Die Fortschritte im Training sind unverkennbar. "Gute Übung, Dascha!", lobt Trainerin Yulija Raskina nach dem zweiten Durchlauf. Und: "Die Grand Pirouette war jetzt viel besser!“ Jetzt muss sie es auch im Wettkampf zeigen. Bei der Europameisterschaft Ende Mai in Budapest, letzter großer Test vor Olympia, klappte das noch nicht. Sie verpasste das Keulen-Einzelfinale und erreichte im Mehrkampf "nur" Platz drei. Noch sei die Übung nicht goldwürdig, sagt Trainerin Yulija Raskina, aber noch sei auch "genug Zeit" bis Paris. Darja sei die einzige Athletin, die sie kenne, die im entscheidenden Moment noch mal besser werde, sagt Cheftrainerin Isabell Sawade und nennt es ihre "Superkraft". Gelingt es Darja diese Kraft bei den Spielen anzuzapfen, wird sich Paris umgehend in sie verlieben, auch wenn sie sich gerade erst kennengelernt haben. 

PARIS.24 – Aus Liebe zum Sport

Das Magazin weckt die Vorfreude auf die Olympischen und Paralympischen Spiele 2024 in Paris. 

Auf 148 Seiten finden Sportfans aufwändig produzierte Reportagen, exklusive Interviews und Fotostrecken zu und über die Stars und Persönlichkeiten des Team D und des Team Deutschland Paralympics.

Coverstar ist Darja Varfolomeev, fünffache Weltmeisterin in der Rhythmischen Sportgymnastik - und das gleich mit drei unterschiedlichen Titelseiten. Das Resultat eines hochklassigen Modeshootings.

INTERESSE?

Das Magazin ist zum Preis von 8 Euro bundesweit am Kiosk sowie online (paris24magazin.de) erhältlich.

AUSGABE        Olympia 03-2024 | Einblicke | Darjas Superkraft
AUTOR             Thilo Komma-Pöllath