Cyrus Salehi | Foto: Tom Weller
Turn-Team Deutschland

Physiotherapeut Cyrus Salehi hält bei Olympia die Athleten in Schuss

Wie ein Automechaniker in der Formel 1

Geht es um seine Tätigkeiten bei Olympischen Spielen, dann zieht Cyrus gerne einen überraschenden Vergleich heran. "Ich sehe meine Aufgabe so wie ein Mechaniker in der Formel 1, der über Nacht den Rennwagen wieder fit kriegen muss", erklärt er. Für ihn bedeutet das, der Rennfahrer gibt sein Auto mit 100 Prozent Vertrauen in die Werkstatt und sagt zu seinem Chefmechaniker, richte das über Nacht wieder so her, dass ich morgen ein Rennen fahren kann.

Immer ein offenes Ohr für die Ahtleten

Grundsätzlich läuft seine Arbeit nach Salehis Ansicht so wie früher bei einem Michael Schumacher in dessen Formel 1 Team. "Von dem hat man ja gesagt, er habe den sensibelsten Popo in der Motorsportszene gehabt. So haben auch die Turner, die sich ja wirklich sehr mit ihrem Körper beschäftigen, ein extrem gutes Körpergefühl. Daher ist es wichtig, dass man als Therapeut dem Athleten genau zuhört", betont Salehi. Denn niemand kenne den eigenen Körper so gut wie der Turner selbst. "Die meisten Athleten sind so sensibel, dass sie einem schon zu Beginn sehr genau sagen können, wo es klemmt", erzählt er. 

Das offene Ohr wird daher beim 54-jährigen Salehi immer ganz großgeschrieben. Denn zum einen fühle der Athlet sich dann verstanden. Zum anderen liefere er darüber hinaus oft enorm wichtige Hinweise. Selbst wenn er diese nicht medizinisch benennen könne. "Aber sie zeigen und erklären einem, was das Problem ist. Und meine Aufgabe ist es dann, dieses Problem zu verstehen und die richtige Behandlung dafür auszusuchen", sagt er.

Doch nicht immer liegt die Ursache auf der Hand.

Manchmal könnten weder Athlet noch Physiotherapeut den Ursprung des Übels sofort erkennen. "Vor allem, wenn es keine typische Verletzung ist. Wenn man dann irgendwann nicht mehr weiterweiß, muss man anfangen zu suchen. Es gilt ja schließlich schnell zum Ziel kommen", weiß der Physiotherapeut. In solchen Fällen versuche er sich in sein Gegenüber hineinzuversetzen, die Abläufe nachzuvollziehen und so letztlich herauszufinden, welche Struktur verantwortlich ist.

Es sind seine vierten Olympischen Spiele

Für Salehi sind es in Paris die vierten Olympischen Spiele. Dass ausgerechnet er erneut der Physiotherapeut ist, dem das Turn-Team Deutschland und seine Athleten ihr Vertrauen schenken, ehrt ihn ungemein. "Es ist eine Auszeichnung, wenn eine Mannschaft sich für einen Therapeuten entscheidet. Ich weiß das auch sehr zu schätzen. Ich möchte glauben, dass sich die Athleten mich wieder ausgesucht haben, weil sie wissen, dass ich die ausreichende Professionalität habe, um mit ihnen umzugehen", sagt er. Und er meint damit nicht nur das Physiotherapeutische, das auf der Massagebank passiert. "Auch das, was nebendran und zwischendurch passiert. Denn sie wissen auch, dass ich 100 Prozent diskret bin", betont er.

Auch der Akzeptanz des Trainerstabs ist ihm sicher. Für jemanden, der im fernen Unterhaching noch einen eigenen Betrieb, seine Praxis Consports Physiotherapie, am Laufen halten müsse, sei das natürlich oftmals schwierig. "Mit Valeri Belenki und seinem Trainerstab ist es aber so, dass der schaut, welcher Therapeut am besten passt, in Absprache mit den Athleten", verrät er.

Diese menschliche Ebene hält Salehi gerade bei großen Events ohnehin für besonders wichtig. "Speziell bei Olympia sind alle sehr sensibel. Denn Weltmeister kannst du im Prinzip jedes Jahr werden, aber es gibt nicht jedes Jahr einen neuen Olympia-Sieger", sagt er. Dem Physiotherapeuten im Team komme da manchmal die Rolle des Vermittlers zwischen Athlet und Trainer zu. "Denn die Nerven liegen blank, weil sowohl Trainer als auch Athlet nervös sind", weiß er. Gerade dann sei es aber wichtig, dass der Physiotherapeut der Ruhepol sei", findet er.

Fingerspitzengefühl

Auch das dafür benötigte Fingerspitzengefühl sollte nach Salehis Ansicht zum Handwerkszeug eines Olympia-Physios gehören. "Man muss manchmal zur richtigen Zeit den Mund halten, manchmal aber zum richtigen Zeitpunkt etwas sagen", erklärt er.

Ein Physiotherapeut, der 100 Prozent das Vertrauen der Athleten genieße, wisse damit umzugehen. Denn das Team habe in der Regel keinen eigenen Psychologen mit an Bord. "Dann übernehme ich ein bisschen die Rolle. Und da ist es ganz wichtig, dass die Chemie stimmt. Denn wenn man tatsächlich den ganzen Tag vom Frühstück bis ins Bett gehen auf engstem Raum miteinander verbringt, dann wird es aufgrund der Enge der Apartments sonst schwierig", lautet einer seiner wichtigsten Erfahrungswerte.

Die Person Cyrus Salehi

Als junger Kerl wuchs Salehi im bayerischen Mühldorf auf, spielte Tennis und turnte bis zum Abitur beim TSV Mühldorf unter Werner Klöpper. Elf Jahre war er Mitglied des Dorfvereins. 

"Dann war ich viele Jahre bei der Kunstturn-Abteilung des FC Bayern, als Physiotherapeut, Fahrer und Kampfrichter. Die Bayern habe ich schon in der Bundesliga betreut, da war ich mit meiner Ausbildung noch gar nicht fertig", erinnert er sich. Bei Juniorenwettkämpfen, Bayerischen Meisterschaften und Deutschen Meisterschaften sei er als Betreuer und Kampfrichter und dann als Physiotherapeut mit unterwegs gewesen.

Seit 1997 ist er lizenzierter Sportphysiotherapeut des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB). Im April 2000 gründete und eröffnete er seine Praxis Consports Physiotherapie in Unterhaching. Neben Turnern gehören auch Fußballspieler der ersten und zweiten Bundesliga, sowie einige Tennisspieler zu den wiederkehrenden Patienten seiner Praxis. Er unterstützt bei mehreren Turnieren, darunter auch beim Davis Cup und konnte außerdem umfangreiche Erfahrungen in der Betreuung des Deutschen Bob- und Schlittenverbands sammeln.

Das blieb natürlich nicht unentdeckt.

"Es war unter anderem Hubert Brylok, der dann irgendwann mal zu mir kam und sagte, Mensch, du bist eigentlich nur für die Bayern hier, aber einer von unsern Jungs hat sich wehgetan, kannst du mal gucken?", erzählt Salehi. So habe er von Wettkampf zu Wettkampf mehr Sportler angeschaut oder betreut. Einfach nur, weil er eben dagewesen sei." 1999 kamen der damalige Bundestrainer Rainer Hanschke und Teamarzt Dr. Boschert auf mich zu und haben gesagt, wir haben dich jetzt schon ein paar Mal gesehen, hättest du nicht Lust mal so einen Lehrgang zu machen?", erinnert er sich an seinen Einstieg. "Und jetzt bin ich seit 25 Jahren bei der Nationalmannschaft dabei. Bei Europameisterschaften, bei Weltmeisterschaften und eben auch bei Olympischen Spielen", lacht er.

Sportinteressiert war Salehi schon als kleiner Junge immer gewesen. Aber so etwas wie Olympische Spiele als aktiver Athlet zu erleben, war ihm mangels turnerischer Klasse nie vergönnt gewesen. Um so mehr genießt er es heute. Denn Olympia, sagt Salehi, sei immer etwas Besonderes. "Es ist eine Ehre für Deutschland bei Olympia dabei sein und eine Mannschaft mit so tollen Athleten betreuen zu dürfen. Wenn man unten in der Olympiahalle einläuft und die Musik beginnt und das Licht geht an und 13.000 Leute grölen und man selbst darf eine dieser Mannschaften betreuen, dann ist das schon ein ganz besonderer Moment, den man sich mit Geld so nicht kaufen kann", ist er überzeugt. "Mein erstes Wow-Erlebnis dieser Art hatte ich 2012 bei den Spielen in London, wo ich Marcel Ngyuen betreuen durfte."

Klar könne er sich auch ein Ticket kaufen und irgendwo oben auf den Rängen sitzen. "Aber da unten einmarschieren zu dürfen, im Olympischen Dorf mit den Athleten zu leben, mit dem Bundestrainer in einem Zimmer zu schlafen, das sind dann schon besondere Anekdoten, die man einfach erlebt haben muss, wenn man die Chance dazu hat", findet er.

 

Eine ganz besondere Ehre
für Cyrus Salehi ist es,
für Deutschland mit der Mannschaft
in die Olympiahalle einlaufen zu dürfen.

Der eingeschlagene Weg führte zum Erfolg

Besonders intensiv waren für Salehi die Olympischen Spiele von Rio de Janeiro. Noch während der Siegerehrung nach der Goldmedaille am Reck durch Fabian Hambüchen, sei dessen Vater und Trainer Wolfgang Hambüchen zu ihm gekommen. "Cyrus, ich habe mich schon oft bei dir bedankt für deinen Einsatz und so weiter. Aber weißt du auch, dass du den Fabi total genervt hast?", habe der ihn gefragt. Salehi verneinte erstaunt. "Noch sechs Wochen vor Olympia", fuhr Hambüchen fort, "sei Fabian mit Tränen in den Augen nach Hause gekommen und habe gesagt: Der Cyrus redet immer noch von Olympia. Der kapiert einfach nicht, dass wir es nicht mehr schaffen."

Doch Salehi hatte sich nicht beirren lassen. Er glaubte bis zuletzt, dass der eingeschlagene Weg zum Erfolg führen würde. "Was die meisten nicht wussten, ist, wie schlecht der Zustand von Fabian wirklich war. Die Schulter war im Vorfeld von Rio relativ stark verletzt und es war eigentlich bis zum Tag seines Finales fraglich, ob sie hält oder nicht", erinnert sich der Physiotherapeut.

Fast ein halbes Jahr hatte Hambüchen zuvor nicht trainieren können. "Er ist da regelmäßig, auch am Wochenende, zu mir gekommen. Ich habe ihn in meinem Wohnzimmer behandelt. Und abends haben wir mit den Kindern gegrillt. Ich hatte die Hoffnung bis zum Schluss nicht aufgegeben, während Fabian eigentlich schon resigniert hatte", erzählt Salehi. Dass er dann zum Schluss doch noch seine Leistung bringen, es allen beweisen konnte, das hat für ihn dieses Märchen so perfekt gemacht. "Auch, weil nur ganz wenige wussten, wie knapp es körperlich am Ende tatsächlich war", sagt er.

Auf der anderen Seite habe es 2016 in Rio auch einen Andreas Toba gegeben.

"Als der auf der Bodenfläche lag und ich seine Knie angeschaut habe, dachte ich, Scheiße. Das ist jetzt Schluss mit lustig. Ich hatte selten so ein kaputtes Knie in der Hand", räumt Salehi ein. Kaum sei er wieder zurück in der Halle gewesen, habe Dr. Boschert ihn aufgeregt gerufen. "Cyrus, Cyrus, schnell, schnell, du sollst zu Toba, du sollst zu Toba", erzählt er. Also sei er noch einmal durch die ganze Arena gelaufen. "Ich komme zu ihm in den Umkleideraum rein, wo Toba auf der Bank lag und noch völlig unter Adrenalin, sagt, Cyrus, kannst du mir mein Bein so fest tapen, dass ich es nicht mehr bewegen kann?", sagt Salehi. Also habe er aus seiner Tasche alles ausgepackt, um innerhalb von 4 Minuten irgendwie einen relativ stabilen Verband für das Knie zu machen. Denn das Knie sei wirklich kaputt gewesen und durfte nicht mehr bewegt werden. "Und damit hat er seine Pferdübung noch geturnt und wurde so zum Hero de Janeiro."

Seine Stunden und Kilometer bei Olympia hat Salehi nie gezählt. Es sei aber definitiv so, "dass die Zeit bei Olympia ein echter Knochenjob ist." Vielleicht aber, räumt er ein, liege diese Tatsache auch nur an der ihm eigenen Art zu Arbeiten. Denn 20-Minuten-Termine gebe es bei ihm nun einmal nicht. "Ich behandle die Athleten so lange, bis sie zufrieden sind", sagt er. Vielleicht gibt's andere Therapeuten, die schon mal sagen, heute Abend ist frei. Oder nach 20 Uhr ist irgendwann Feierabend. "So etwas gibt es bei mir nicht. Die Athleten merken, dass ich im Dienst der Mannschaft immer sehr aufopfernd bin. Und dass ich eigentlich erst dann aufhöre, wenn der Letzte zufrieden ist. Für mich ist das auch wichtig. Denn ich habe ein Motto, ich behandle die Leute so, wie ich selbst behandelt werden wollte."

Der vermeintliche Zeitmangel für touristische Aktivitäten von Mannschaftsarzt Dr. Hans-Peter Boschert, belustigt Salehi dagegen. "Wenn einer Zeit hat, dann ist es doch der Mannschaftsarzt", stichelt er mit einem Grinsen, ohne den Einsatz von Dr. Boschert schmälern zu wollen. Die beiden verbindet seit 25 Jahren eine enge Freundschaft und sie haben schon viele große Wettkämpfe gemeinsam betreut. Wenn der Mannschaftsarzt einen guten Physiotherapeuten dabeihabe, habe er ja um so weniger zu tun. Ganz im Gegensatz natürlich zu den Physiotherapeuten. "Also mal ehrlich, ich bin derjenige, der am wenigsten Freizeit hat", sagt er mit einem Augenzwinkern und beansprucht auf jeden Fall den Titel des meistbeschäftigten Olympiateammitglieds für sich. "In Tokio, zum Beispiel, habe ich stundenlang, bis weit über Mitternacht hinaus, an den Athleten gearbeitet", erinnert er sich.

Beschwert hat er sich darüber aber dennoch nie. "Auch die Physiotherapeuten lassen sich natürlich vom Olympiafieber der Athleten anstecken, die oft schon viele Jahre auf die Spiele hin planen. Man bekommt den Stellenwert täglich mit, den das Ganze für die Mannschaft und die einzelnen Athleten hat. Und da man selbst Teil der Mannschaft ist, nimmt man das genauso für sich mit an. Und darin liegt auch das Besondere, gerade für die Physiotherapeuten."

Ganz besonders waren für Salehi auch die Spiele in Tokio 2021.

Aufgrund der Corona-Situation musste die Delegation abreisen. Für das Barrenfinale von Lukas Dauser durfte nur noch ein Vierergespann vor Ort zurückbleiben: Lukas Dauser, sein Trainer Herbert Brylok, der deutsche Cheftrainer Valeri Belenki und eben er als Physiotherapeut. Salehi erinnert sich, dass Lukas damals sehr traurig war und sich irgendwie "alleine" zurückgelassen fühlte. Er schickte ihn in den Wettkampf mit den Worten:

Der Bergsteiger, der den Gipfel das Himalaya besteigt, ist am Ende auch ganz allein. Sein Team begleitet ihn nur bis zum Basislager. Ab da, muss er den letzten Stück des Weges alleine gehen.

AUSGABE        Olympia 03-2024 | Turn-Team Deutschland | Wie ein Automechaniker in der Formel 1 
AUTOR             Nils B. Bohl