Marcel Nguyen im Stadion | Bildquelle: Alexander Hassenstein-Staff
Turn-Team Deutschland

(Un)Kaputtbar

Marcel Nguyen kämpft sich zurück und wird zur tragischen Figur der Heim-EM

An den entscheidenden Abgang im Training an den Ringen, der ihn die Olympischen Spiele 2021 in Tokio kostete, kann sich Marcel Nguyen noch sehr genau erinnern. "Ich habe es sofort gewusst. Ich kannte ja die Verletzung schon, weil ich bei meinem letzten Kreuzbandriss ja genauso gelandet bin", erklärt der zweifache Olympiamedaillengewinner von London. Er habe zugesehen, wie sein Knie nach innen weggeknickt sei.

Es hat geknackt und ich hab mir gedacht, es ist vorbei. Das war's.

Denn mit Verletzungen kennt sich Nguyen aus. Zwei Kreuzbandrisse, Schädigungen in der Schulter und eine hartnäckige Handgelenkverletzung füllen seine Krankenakte.

Schulterverletzung 2019 vor Heim-WM

Die doppelte Tragik an dieser Sache: Die Schulterverletzung bremste ihn 2019 vor der Heim-WM in Stuttgart aus. "Ich hatte schon lange Zeit Schulterprobleme, und ich wusste, dass früher oder später die Schulter das nicht mehr mitmacht. Aber der Zeitpunkt war natürlich mal wieder sehr ungünstig", erzählt er.

Zudem sei eine Schulter-OP nochmal ein bisschen schlimmer als eine Knie-OP. "Wir haben vier Geräte, an denen man den Oberkörper braucht. Für die Knie sind es nur zwei Sprunggeräte", erklärt er weiter. Fast drei Jahre hatte seine Schulter ihn da schon geplagt. "Es war schon sehr schwer für mich, ich war endlich wieder richtig gut vorbereitet bei dieser WM", blickt er zurück.

Kreuzbandriss 2014 vor WM in Nanning

Selbst der erste Kreuzbandriss erwischte ihn im unpassendsten Moment, eine Woche vor dem Abflug zur WM 2014 im südchinesischen Nanning. Vom Medaillenaspiranten direkt in eine gähnende Leere. "Man ist mit einem Kreuzbandriss etwa ein Jahr raus. Das ist eine sehr, sehr lange Zeit im Leistungssport", sagt er. Denn neben dem plötzlichen Ausfall ist auch gleich die kommende Saison mit der Diagnose mitgefährdet – für Sportler ein denkbar schlechtes Szenario.

Da muss man erstmal wieder aus dem Loch rauskommen", erklärt er.

Erneuter Rückschlag und immer wieder bei Null anfangen

Der erneute Rückschlag jetzt sei daher für ihn allerdings nur schwer verdaubare Kost gewesen, räumt er ein. Insbesondere, weil er bereits gewusst habe, was nun alles auf ihn zukomme. Operationen und dann immer wieder bei Null anfangen, die Reha und der fortwährende harte Kampf um das Comeback. "Ich habe da auch erst einmal ein bisschen Zeit für mich gebraucht", sagt er. Eine schöne Zeit sei das jedoch nicht gewesen, räumt er ein. Doch dann habe er beschlossen, den Blick wieder nach vorne zu richten, habe geschaut, schnellstmöglich einen OP-Termin zu bekommen, damit alles wieder in Ordnung gebracht würde. "Auch für den Fall, dass ich gar nicht mehr turnen würde", sagt er.

Motivator Heim-Europameisterschaft

Mit dem Gedanken, noch einmal bis zu den Europameisterschaften in seiner Heimatstadt München weiterzumachen, hatte Nguyen ohnehin schon länger gespielt. So begann er recht schnell, seinen Fokus auf das Multisportevent zu richten, das neun Europameisterschaften, inklusive Gerätturnen, miteinander verbindet.

"Eine Europameisterschaft zuhause in Deutschland und dann noch in München, wo ich ursprünglich herkomme, das war natürlich schon cool. Und dass es nicht nur eine einfache EM, sondern in Form der European Championships ein Multi-Event ist, macht es zu einer noch cooleren Sache", erklärt er.

Doch dann der erneute Schock

Eine leichte Knieverletzung, die er sich beim letzten Länderkampf am 23. Juli in der Schweiz am Sprung zugezogen hatte, zwingt Nguyen erneut zur Absage eines wichtigen Großevents. Am Sprung hatte er dort einen Doppelsalto gehockt deutlich zu tief gelandet, sein durch zwei Kreuzbandrisse und mehrfache Operationen lädiertes Knie reagierte auf diese Belastung heftig. "Leider muss ich meine Teilnahme an der letzten EM-Quali verletzungsbedingt absagen. Die European Championships müssen somit ohne mich stattfinden", ließ Nguyen sechs Tage später zerknirscht per Pressemitteilung wissen. "Ehrlich gesagt, frustriert mich das extrem", erklärte der 34-Jährige in der Mitteilung weiter. Denn nach der Heim-WM 2019 in Stuttgart und den Olympischen Spielen 2021 in Tokio verpasst er nun aus Verletzungsgründen bereits das dritte hochkarätige Ereignis in Folge.

Bei Valeri Belenki in allerbesten Händen

Und dennoch: Auch nach München soll für den 34-Jährigen noch nicht Schluss sein. Jetzt, wo der Löwenanteil der Comeback-Arbeit gestemmt ist, will er den Schwung sogar bis zu den Olympischen Spielen 2024 in Paris nutzen. Schließlich sei der Aufwand ziemlich groß gewesen, um die Früchte nur auf einem einzigen Event zu ernten. Als weiteren Grund führt Nguyen den neuen Bundestrainer Valeri Belenki an, mit dem der Unterhachinger schon seit Jahren in Stuttgart erfolgreich zusammenarbeitet.

"Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich es nicht machen würde, wenn Valeri nicht Bundestrainer wäre. Ich habe ein super Verhältnis zu ihm und ich habe es nicht geschafft, einen Wettkampf mit ihm zu turnen, seit er Bundestrainer ist. Da hab ich mir gedacht, dass kann ja nicht sein“, erklärt Nguyen, der sich bei Belenki in den allerbesten Händen sieht. "Für mich ist er der perfekte Trainer. Er ist selber durch eine harte Schule gegangen, er war Olympiasieger, er weiß, wie es läuft. Ihm kann man nichts vormachen", ist Nguyen überzeugt. Zwischenmenschlich habe es zwischen beiden ohnehin schon immer gepasst. "Und zwar so gut, dass ich auch sicher nach dem Sport mit ihm eng in Kontakt bleiben werde", sagt er.

Doch zunächst gilt es die European Championships zu überstehen, diesmal eher mental. Auf die Atmosphäre, die dort im August in ganz München herrschen wird, freut sich Nguyen schon ganz besonders.

München ist ja schon so eine superschöne Stadt. Aber was ich gehört habe, wird auch kulturell einiges geboten. Mit einem Festival rund um die Sportveranstaltungen mit vielen Bands.

Mit dem letzten Groß-Sportevent in der bayerischen Landeshauptstadt, den olympischen Spielen von 1972, verbindet Nguyen vor allem den Olympiapark. Und jetzt in der Olympiahalle auflaufen zu können, wo vor 25 Jahren die Olympischen Spiele stattgefunden hätten, das wäre auch für ihn schon etwas sehr Besonderes gewesen. "Ich bin ja am Münchner Isartor zur Schule gegangen. Ich hab da auch immer mal wieder mit meinen Freunden in der Soccer 5 Arena Fußball gespielt", sagt er. Und wenn man ein bisschen Glück hat, kann man dort im Olympiapark auch den dreifachen Olympiateilnehmer beim Morgenspaziergang mit Shiba Inu-Hündin Akira treffen.