Kampfrichterin Selina Röhrl mit Sabrina Klaesberg WM Liverpool | Bildquelle: Privat
Turn-Team Deutschland

Kampfrichterin Selina Röhrl

Mit unbestechlichem Blick an die internationale Spitze

Im täglichen Geschäft trägt Selina Röhrl häufig schwarz. Mit Robe kümmert sie sich dabei als Strafverteidigerin in Saarbrücken eher ums Grobe. Wenn es an unzähligen Wochenenden im Jahr dann darum geht, Feinheiten zwischen einzelnen Turnerinnen herauszuarbeiten, dominiert meist das dunkle Blau ihrer Kampfrichterinnenuniform.

Die, sagt sie, führe international manchmal zu ganz witzigen Situationen.

"Wir sind ja immer gesondert von den Delegationen und den Mannschaften untergebracht. Alle Kampfrichterinnen und Kampfrichter in einem Hotel. Und dann sieht es bei der Abfahrt immer so ein bisschen aus wie bei einer Fluggesellschaft. Weil alle ein wenig aussehen wie Stewardessen. In Montreal hat dann einmal tatsächlich der Bus einer Fluggesellschaft vor dem Hotel gewartet, und ich muss sagen, ein Unterschied zwischen uns und denen war tatsächlich kaum zu erkennen", lacht sie.

Europameisterschaften in Bern 2016

Bei den Europameisterschaften in Bern 2016 erschien die 31-jährige Rechtsanwältin erstmals auf der Bildfläche der großen internationalen Turnevents.

Sechs Jahre später hat sie sich zur obersten Nachfolgekandidatin für Deutschlands derzeitige Top-Expertin Sabrina Klaesberg gewertet. "In Bern war ich damals total aufgeregt, weil ich es einfach gut machen wollte", erinnert sie sich noch gut. Nur zwei oder dreimal hatte sie zuvor überhaupt einen Wettkampf auf Podium gewertet.

"Auf nationaler Ebene haben wir das ja nur bei Deutschen Meisterschaften, wenn überhaupt", bedauert sie. 

Allen gerecht werden

Geändert hat sich das mit der Aufregung bis heute nicht.

"Ich möchte allen Turnerinnen mit meiner Wertung gerecht werden. Ich will unbedingt das richtige Ranking erstellen. Darauf kommt es ja am Ende an. Auch bei der E-Note", betont sie. Und weil sie seit Bern von diesem Anspruch keinen Millimeter abgewichen ist, stellt sich auch die Aufregung vor jedem Wettkampf mit schöner Regelmäßigkeit wieder ein.

"Gerade wenn es dann Richtung Finale geht. Sei es Mehrkampffinale, Teamfinale oder Gerätefinale. Allein diese Vorstellung, dass man dort sitzt und mitbestimmt, wer jetzt Europa- oder Weltmeisterin wird, ist für mich jedes Mal aufs Neue verrückt. Ich bin total stolz, diese Position innezuhaben und das erleben zu dürfen. Jeden einzelnen Einsatz. Und dabei ein Teil dieses Ganzen zu sein. Das ist einfach wunderschön", schwärmt sie.

Montreal und die Hochhäuser

Zumal man praktisch nebenbei immer wieder spannende Länder und Städte zu sehen bekommt, bei denen man ohne das Turnen wohl niemals einen Grund gefunden hätte, hinzufahren.

"Eigentlich komme ich immer wieder aufs Neue beeindruckt zurück", sagt sie. Ihre erste WM in Montreal hat bei Röhrl einen besonders bleibenden Eindruck hinterlassen. "Es war meine erste Stadt mit diesen Hochhäusern. Vorher war ich nur mal in den USA auf irgendwelchen Flughäfen umgestiegen. Daher hat mich das total geflasht und sich so in meine Erinnerung eingebrannt", erzählt sie.

Das saubere Baku

Baku in Aserbaidschan habe sich ihr beim Weltcup anders präsentiert, als sie dies erwartet hatte.

"Ich war total überrascht, wie sauber Baku ist. Und was für eine schöne Stadt das tatsächlich auch ist", findet sie rückblickend. Auch Doha war für Röhrl eine Erfahrung gegen Vorurteile. "Bei Doha hat man mir am Anfang gesagt, naja, als Frau und dann mit Top und am besten nicht allein auf der Straße. Und irgendwie, ich hatte zu keinem Zeitpunkt dort das Gefühl, unerwünscht zu sein oder auch nur komisch angeschaut zu werden", erzählt sie. Gerade als blonde Frau sei das ja manchmal auch anders. "Aber ich bin stellenweise auch allein draußen gewesen, hab mein Hotel verlassen, um spazieren zu gehen. Auch da hatte ich keine Probleme. Also da war ich dann schon auch positiv überrascht", betont sie.

Dem Turnen treu bleiben

Eigentlich war für Selina Röhrl schon immer klar: Nach ihrer aktiven Turnkarriere, die sie mit 15 Jahren in Mannheim beendete, wollte sie dem Sport weiter verbunden bleiben. Es war die heutige Bundesnachwuchstrainerin Claudia Schunk, die Röhrl auf die Kampfrichterspur lenkte. "Mannheim brauchte Kampfrichter, also hat sie Regina Krauß, Alina Rothardt und mich einfach angemeldet", erinnert sich Röhrl. Sie begriff schnell, dass dies die Rolle sein könnte, wie sie ihrer Leidenschaft Turnen treu bleiben konnte. "Es hat mich interessiert. Und ich habe relativ schnell gemerkt, dass es mir auch sehr viel Spaß macht", sagt sie.

Röhrl absolvierte erst die B-Lizenz und ließ nach einem Jahr direkt die A-Lizenz folgen. "Und dann suchte Deutschland dringend Nachwuchskampfrichter", erinnert sie sich. So durfte ich durch eine Sondererlaubnis relativ schnell die Deutschen Meisterschaften werten. "Das war anfangs mal mein Ziel. Und dann habe ich in Berlin tatsächlich die Deutschen Meisterschaften gewertet", wusste sie kaum, wie ihr geschah. Und dann habe sie Sabrina Klaesberg noch angesprochen. Der DTB suche junge Kampfrichterinnen und Kampfrichter, brauche eine neue Kampfrichtergeneration. "Sie fragte mich, ob ich da Interesse hätte, auch die internationale Lizenz zu machen", erinnert sich sie sich. Für Röhrl war das natürlich keine Frage. "Also habe 2013 meine erste internationale Lizenz gemacht", grinst sie.

Die Kurzschrift

Das Erlernen der vielen Kampfrichterkürzel sei ihr nie besonders schwergefallen, sagt Röhrl. 

"Aber ich habe tatsächlich ein paar Elemente, wo ich immer noch meine eigenen Kürzel habe", verrät sie. Und das werde sich auch nicht mehr ändern. "Grundsätzlich hat die Kurzschrift der Kampfrichter aber ein aufbauendes System. Wenn man das einmal verstanden hat, erscheinen einem auch die Kürzel logisch. Zum Beispiel hat eine Rolle vorwärts dasselbe Kürzel wie ein Salto. Nur dass ich bei einer Rolle zwei Striche drunter mache, da die ja einen Kontakt mit dem Boden hat. Der Bewegungsablauf an sich ist aber derselbe", erklärt sie. 

Röhrls erster "internationaler" Einsatz war ein Länderkampf in Deutschland.

"Ich hatte Linie Boden damals. Ich war so aufgeregt. Die ganzen Idole wie Katalina Ponor, die man damals als aktive Turnerin so gehabt hat. Und zu denen man nach wie vor irgendwie hochgeschaut hat. Und nun saß ich da und war ein Teil dieses Wettkampfs. Und schaute, ob die jetzt die Bodenfläche verlassen hatten oder nicht. Ich war total stolz."

Kein Bonus

Einen Bonus für Idole oder Favoriten gab es bei Röhrl aber damals ebenso wenig, wie es ihn heute gibt.

Da bleibt die Juristin eisenhart. "Tatsächlich vertraue ich darauf, was ich auf meinem Blatt stehen habe. Das, was ich eben, als ich das Element gesehen habe, aufgeschrieben habe. Und das gebe ich dann auch ein", erklärt sie.

Denn natürlich hat auch Röhrl viele Übungen bereits gesehen. "Gerade bei den langen Wettkampftagen, wenn man 120, 130 Turnerinnen sieht, muss ich aber dem vertrauen, was ich in der Situation mitgeschrieben habe. Nicht dass ich da im Nachgang irgendwie denke, ach nee, jetzt hatte ich es doch anders in Erinnerung", sagt sie.

Code de Pointage

Ob DM oder EM, für Röhrl zählt nur eines: der Code de Pointage.

"Ich unterscheide nicht, ob ich Deutsche Meisterschaften oder eine EM werte. Denn es geht letztlich immer für irgendwen um viel", findet sie. Denn Deutsche Meisterschaften seien für die Turnerinnen zumeist auch Qualifikationswettkämpfe für die großen Events. "Daher werte ich genauso, wie ich es auf internationaler Bühne auch werte. Weil da jetzt mit zweierlei Maß zu messen, ist auch nicht zielführend. Zumindest langfristig nicht", ist sie überzeugt. Und daher ist es Röhrl lieber, gerade wenn es ums D-Kampfgericht geht, die eigene Linie beizubehalten.

"Lieber einmal zu viel drauf hingewiesen, das kann man dir vielleicht aberkennen, als in Deutschland alles freundlich anzuerkennen und zu sagen, es war alles super, alles toll und dann vor Ort die große Enttäuschung zu erleben."

Vor großen Events heißt es auch für Röhrl immer wieder büffeln. "Da gehen schon einige Abende drauf. Ich mache das allerdings auch regelmäßig, wenn kein Wettkampf vor der Tür steht. Damit ich nie ganz rauskomme und ich wieder von vorne anfangen muss", sagt sie. Das Auge müsse kontinuierlich geschult werden, um die Regeln so gut anwenden zu können, wie es vorgesehen sei. "Man kann nicht aus dem Nichts nach zwei, drei Monaten irgendwohin fahren und sagen, hallo, hier bin ich", findet sie.

Roboter und KI

Dass Roboter und künstliche Intelligenz einmal ihren Job machen werden, davor hat Röhrl allerdings keine Angst.

Dass Roboter und künstliche Intelligenz einmal ihren Job machen werden, davor hat Röhrl allerdings keine Angst. "Das wäre natürlich schon sehr, sehr traurig. Nicht nur im Sinne meiner Freizeitplanung", sagt sie. Denn gerade bei den Frauen gebe es ja die Kunst, die man natürlich versuche zu objektivieren. Ob die ein Automat oder eine künstliche Intelligenz messen könne, bezweifelt die Kampfrichterin. Zwar sei deren Messung vermutlich genauer als die des menschlichen Auges. Aber genau darin liege ein weiteres Problem. "Es bringt mir nichts, wenn ich im Training eine Übung mit dem menschlichen Auge bewerte und sage, ja, die Gradzahl ist erreicht, die Dauer ist erreicht, das zählt so. Und dann komme ich zum Wettkampf und dann steht da der Automat. Und der misst das genauer, aber eventuell ganz anders als mein menschliches Auge. Und auf einmal zählt da nichts mehr", warnt sie. Also müsse man jede Turnhalle auf diesem Level mit so einem System ausstatten. "Und das ist nicht praktikabel", glaubt sie.

Ein Olympia-Tattoo?

Erst einmal kein Grund für Röhrl, ihre Ziele zu ändern.

"Ich würde schon einmal gerne als Kampfrichterin zu Olympia fahren", sagt sie. Ob sie sich dann auch ein Tattoo mit den Ringen stechen lässt, wie viele der Athletinnen und Athleten dies tun? "Als Athletin hätte ich es auf jeden Fall auch gemacht. Aber als Kampfrichterin - man ist halt jetzt auch schon ein bisschen älter", lächelt sie. In jedem Fall werde es dann aber im Haus eine Stelle geben, wo ganz klar zu erkennen sein würde, dass sie bei Olympia war.

Denn das Gefühl, Teil des internationalen Turnens zu sein, hat auch Röhrl über die Jahre geprägt. Das sei, sagt sie, eine eigene Welt. Ein fortwährendes, riesiges Familientreffen. Das merkt auch die Anwältin, wann immer sie von einem Einsatz zurückkehrt. "Denn wenn ich dann Sonntagabend lande und Montagfrüh zurück in den Alltag in die Kanzlei komme, das ist immer so ein kurzer Kulturschock", lacht sie. Ein Blick in den Terminkalender spendet Trost, denn bald, so ist da zu lesen, ist Selina Röhrl wieder für Deutschland auf Tour.

Bei den Weltmeisterschaften in Antwerpen.

Der Qualifikation für die Athletinnen und Athleten für die Olympischen Spiele 2024 in Paris.

AUSGABE  International 03-2023 | Turn-Team Deutschland | Mit unbestechlichem Blick
AUTOR       Nils B. Bohl