Pauline Tratz | Bildquelle: Privat
Turn-Team Deutschland

NCAA: Go West

Keine Angst vor großen Zielen

Einst das Nesthäkchen im Team der Kunstturn Region Karlsruhe, mauserte sich Pauline Tratz binnen weniger Jahre zur Nationalturnerin bei Europa- und Weltmeisterschaften. Sie holte 2016 mit dem Team die Qualifikation für die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro, wo sie wenige Monate später auch als Ersatzturnerin Teil des Teams wurde.

Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere jedoch, drehte sie das Steuerrad abrupt in Richtung Westen und nahm im Land der unbegrenzten Möglichkeiten Kurs auf eine Karriere in der National College League (NCAA). Gleich im ersten Jahr holte sie mit den "Bruins" in Los Angeles den begehrten US-Titel.

Studiengebühren sparen

Was in den USA ein üblicher Weg ist, die teuren Studiengebühren zu sparen, war für Tratz von Beginn an eine besondere Chance. "Bei mir persönlich war es damals so, dass ich über Kontakte eine Anfrage von jemand aus Chicago hatte. Der Trainer kam dann sogar nach Deutschland und hat mir beim Training zugeschaut", erzählt sie. So etwas passiere inzwischen auch im Ausland öfter. Vor allem an Kanadierinnen hätten die US-Unis Interesse, weil die nicht weit weg und gerade populär seien. "Die meisten College-Turnerinnen in den USA sind aber Amerikanerinnen, die schon im jungen Alter von den Trainern der Unis gesichtet werden", sagt Tratz. Da gingen die College-Trainer und -Trainerinnen zu den Wettkämpfen und schauten sich potenzielle Kandidatinnen an: "Dann fragen sie an, ob sie Interesse hätten, später einmal für diese Uni zu turnen. Und dann bleibt man seites der Trainer in stetigem Kontakt", erklärt sie.

Heiliger Gral: Vollstipendium

Das Gespräch mit dem Uni-Scout motivierte die damalige Kaderturnerin. "Wo könnte ich denn außerdem noch hingehen?", fragte sie sich. Sie habe sich mit ihrer Balkentrainerin aus Kanada ausgetauscht und danach selbst die Initiative ergriffen. "Ich habe im Internet nach den Trainern gesucht und E-Mails geschrieben, hallo ich bin die Pauline, ich bin in der deutschen Nationalmannschaft, hier sind Videos, kann ich ein Full Scholarship haben?", erzählt sie mit einem Augenzwinkern. Solche Vollstipendien können den Studierenden in den USA schon einmal 60.000 US-Dollar pro Jahr sparen und gelten daher vielen als der Heilige Gral des US-Amerikanischen Studiensystems. Denn sie decken fast alles für die gesamten drei oder vier Jahre des Studiums ab. Studiengebühren und Lebenshaltungskosten werden weitgehend vom Anbieter übernommen, so dass sich der Student oder die Studentin auf sein Studium und das soziale Leben konzentrieren kann, ohne sich um Geld sorgen zu müssen.

Zu Tratz Überraschung reagierten viele der Angeschriebenen. "Damit habe ich gar nicht gerechnet. Zum einen ist Deutschland ja international nicht gerade die krasse Turnnation schlechthin, zum anderen konnte ich mir nicht vorstellen, warum sie jetzt eine Deutsche nehmen sollten. Wo sie doch zuhause in Amerika so ein Massenangebot an hochklassigen Turnerinnen haben", sagt sie. Im Nachhinein betrachtet sei es ihnen aber nicht nur auf das turnerische Können angekommen. "Ich glaube, meine Videos haben ihnen ganz gut gefallen. Die Art, wie ich mich präsentiert habe. Das spielt in den USA eine große Rolle", weiß sie nun.

Illinois, Arizona, Oklahoma oder North Carolina, die Landkarte von Tratz Möglichkeiten wuchs fast täglich. "Ich habe mich aber dann auf Kalifornien fokussiert. Ich dachte, wenn ich die Möglichkeit habe in die USA zu gehen, dann will ich nach Kalifornien», erinnert sie sich. Ihre Chance habe sie zwar eher als gering eingeschätzt. Schließlich sei das auch für viele Amerikanerinnen ein Traumziel. "Und dann wurde ich gleich von allen drei Unis in Kalifornien, mit denen ich gesprochen hatte, zu einem sogenannten Official Visit eingeladen", erinnert sie sich.

Also machte Tratz‘ sich auf die Reise nach San Francisco und Los Angeles.

48 Stunden auf dem Campus, keine Geschenke

Für den "Official Visit" gibt es unter den US-Unis äußerst strenge Regeln. So darf der Wunschkandidat nur 48 Stunden auf dem Campus sein. Innerhalb dieser Zeit müssen Trainer, Trainerin oder Uni es schaffen, ihn zu überzeugen – oder eben nicht. "Sie dürfen dir nichts kaufen, du kannst mit ihnen essen gehen und sie bezahlen das alles, aber sie dürfen dir jetzt nicht noch ein T-Shirt obendrauf schenken. Denn das wäre dann so ein bisschen wie ‚ich kaufe mir die Athletin‘ ", erzählt Tratz. Sie sei im schönsten Restaurant von Los Angeles zum Essen ausgeführt worden und auch in Berkeley habe man sich perfekt um den Gast aus Deutschland gekümmert. Sie habe dadurch auch viele Einsichten in die Schule und das jeweilige Turnteam bekommen.

Berkeley oder Stanford?

"Tatsächlich fand ich Berkeley von den Leuten und dem Vibe her echt cool. Allerdings waren mir die Turnhalle und das Training zu ähnlich zu Deutschland", gesteht sie. Sie habe aber etwas anderes gesucht. "Ich wollte eine neue Herausforderung. Und auch der Trainer wollte mich für meinen Geschmack zu sehr in seinem Team haben"", erinnert sie sich. Stanford dagegen sei ihr ein bisschen zu unpersönlich, zu erfolgsfokussiert gewesen. Sie habe Leute gefragt, warum die sich für Stanford entschieden hätten.

"Because it's Stanford", hätten die zumeist geantwortet.

Der Trainer habe eine andere Überzeugungstaktik verfolgt. "Es wäre so toll, dich in unserem Team zu haben, aber wenn du dich dagegen entscheidest, dann ist es auch okay", war dessen Tenor. Natürlich, sagt Tratz, sei eine Ausbildung in Stanford etwas wert. "Aber ich habe mich damals nicht vier Jahre glücklich an dieser elitären Universität gesehen".

Volltreffer UCLA

Den Volltreffer bei Tratz landete dann die University of California (UCLA). "Da kam ich in die Halle und ich war sofort begeistert, wie die trainiert haben. Die Stimmung, der Campus, alles war einfach schön. Die Leute sahen einfach alle glücklich aus und ich hatte auch gute Gespräche mit den Trainern. Dort war es persönlicher als bei den anderen", erzählt sie. 

Die ersten Wochen

Bevor sie sich endgültig auf den Weg zu ihrer neuen Wirkungsstätte machte, legte Tratz noch einen Zwischenstop bei der Universiade in Taipeh ein. Von dort flog sie weiter nach Los Angeles. Die ersten Wochen, räumt sie ein, seien überfordernd gewesen. Viele ihrer Teamgefährtinnen seien Amerikanerinnen gewesen, die sich schon seit Jahren kannten. Die meisten anderen hatten zudem die Kurse der sogenannten Summer School genutzt, um sich besser kennenzulernen. "Sehr viel mit Leuten reden und die ganzen Kennenlerngespräche waren tatsächlich herausfordernd für mich. Klar, man lernt Englisch in der Schule. Aber wenn man dann mit 20 Ami-Mädels zusammen ist, die gerade irgendwie alle super motiviert und energiegeladen sind, und permanent so schnell reden und teilweise auch Terms verwenden, die man selbst nicht kennt, macht es die Sache nicht gerade einfacher. Da die eigene Persönlichkeit einzubringen und die Leute wissen zu lassen, wer ich denn bin, war die erste Zeit ein wenig schwer. Dabei ist es gerade das, was mir besonders wichtig ist", sagt sie.

Richtig angekommen ist Tratz dann in mehreren Stufen. "Die Wahrnehmung, mit der ich über den Campus gelaufen bin, bis ins Training, das war einfach, wow. Das ist so krass, ich wohne jetzt hier. Das wird jetzt mein Leben sein. Jetzt gehöre ich dazu. Das alles hat sich für mich richtig angefühlt", schildert sie ihre Gedanken von damals.

Die spontanen Gefühle verfestigten sich über die Jahre, veränderten sich aber auch immer wieder. Dennoch Tratz fand mehr und mehr ihre Position im Team und an der Uni. "Selbst wenn ich nach dem zweiten Jahr gesagt habe, jetzt bin ich richtig angekommen, bin ich nach dem dritten Jahr noch einmal mehr angekommen. Und nach dem vierten Jahr nochmal mehr und dann nach dem fünften Jahr nochmal", lächelt sie.

Pauline mit den Bruins. Bild: Privat

Das Cry-Meeting

Teambuilding sei der UCLA immer sehr wichtig gewesen. "Wir haben da einen Fokus draufgelegt, weil unsere Trainerin die Philosophie hatte, dass wenn man als Team gut zusammenarbeitet, man sich besser pusht. Und damit ein krasseres Erlebnis von Sport haben und die Zuschauer besser animieren kann", berichtet Tratz. Um dieses Thema hätten viele der Teammeetings gekreist.

"Vertrauen schaffen. Wir sind mit Psychologen wirklich sehr emotional und tief gegangen. Auf Ebenen, wo man sich dieser Gruppe öffnet. Damit man weiß, hey, ich kann mich öffnen. Und ich werde trotzdem unterstützt und angenommen", erzählt sie. Jedes Jahr gab es mit dem neuen Team auch ein "Cry-Meeting", um den Grundstein des Zusammenhalts zu legen. Wo jeder Dinge über sich selbst oder auch seine Erfahrungen mit den anderen teilte. "Man musste das zwar nicht tun, aber man hat im Gegenzug auch viele Hintergründe über seine Mitstreiterinnen erfahren", erklärt sie.

Verantwortung für das Team

Zusammengefasst war nach Ansicht von Tratz die Philosophie der UCLA am Ende recht einfach. "Du bist nicht nur verantwortlich für dich selbst. Du bist auch verantwortlich für das Team, für die Uni und wie das gesamte Gebilde von außen gesehen wird", sagt sie. "Wenn du zu spät kommst, dann bist das nicht nur du, sondern das reflektiert wieder auf alle anderen. Wenn du schlecht in der Schule bist, ist es schlecht für dein ganzes Team. Du hast schon sehr viel Druck, dass du es nicht verkacken darfst", erzählt sie weiter. Aber genau daraus entstehe auch ein immens starkes Zusammengehörigkeitsgefühl.

"Es ist von Anfang an das Ziel, National Champion zu werden. Und es wird immer wieder gesagt, was wir machen müssen, um das Ziel zu erreichen", sagt sie. Hochgehalten wurde vor allem das gegenseitige Unterstützen und das Ziel, individuell und als Team besser zu werden. Die Mittel dafür kommen aus dem Team selbst. "Wie können wir uns gegenseitig unterstützen? Eigenverantwortung wurde großgeschrieben und gefördert", betont Tratz.

Tausende Zuschauerinnen und Zuschauer

Mehrere tausend Zuschauerinnen und Zuschauer sind bei den Uni-Wettkämpfen in den USA die Regel, nicht wie etwa in deutschen Ligen, die Ausnahme. Vor bis zu 11.000 Zuschauern turnte Tratz in der US-weiten College-Serie. "Diese Wettkämpfe werden zelebriert. So haben die Turnerinnen und das Publikum Spaß dabei. Und wir konnten feiern, für was wir gearbeitet haben", sagt sie. Tatsächlich habe man auch außerhalb der Wettkämpfe relativ viel mit den Fans interagiert. "Wir hatten immer eine offene Halle. Jeder konnte vorbeikommen, sich in unsere Halle setzen und zuschauen. Ob das jetzt Studierende waren oder irgendwelche internationalen Leute, die gerade über den Campus gelaufen sind. Es war einfach immer sehr herzlich. Wir wollten die auch mit einbeziehen. Das ist doch schön, wenn man sowas teilt und ich glaube auch deswegen haben wir immer viele Zuschauer gehabt. Es gab da einfach eine Bindung zum Team, denn wir waren spektakulär, spaßig und unterhaltsam", findet Tratz.

Die Sticker

Aber auch in der NCAA gibt es keinen Titel ohne sportliche Qualität zu gewinnen. Und daran wurde permanent gearbeitet. "Wir hatten eine große Wand mit jedem Wettkampf. Für die einzelnen Übungen gab es dort Sticker zu verdienen. Drei Sticker für perfekt bis einen Sticker für gut, und keinen Sticker, wenn es halt gar nicht gut war", erklärt Tratz.

Das gesamte Team ging dafür die Wettkampfvideos zusammen durch. Probleme wurden vor und mit dem Team besprochen. "Pauli am Sprung, Abdruck ein bisschen schwach, Landung mit einem Schritt zurück. Allerdings nur ein paar Trainings vorher, dafür war es okay. Ein Stern. Dann kam die Nächste. Hüpfer zu groß, kein Stern. Die nächste. Alles umgesetzt, perfekt gestanden, zwei Sterne", beschreibt sie das Ritual.

Dankbarkeit für die simplen Dinge

Je länger Tratz in der kalifornischen Filmmetropole verbrachte, desto mehr entwickelte sie auch ein Gespür für die Feinheiten der Stadt und des amerikanischen Lebensstils. "West LA ist sehr unterschiedlich zu East LA, West Hollywood zu Hollywood. Alles zusammen ist schon sehr cool. Der Strand, die Berge, die Leute. Das ist aber so ein Gefühl, das man wohl erst entwickeln kann, wenn man dort länger wohnt", glaubt sie. 

Aber auch die dunkleren Seiten von LA hat Tratz nie ausgeblendet. Viele Menschen seien dort sehr statusorientiert, findet sie. "LA ist cool, LA ist Social Media, LA ist sein Schönheitsbild. Wenn du schön aussiehst, bist du in LA mehr wert. Ich habe 50-jährige Frauen gesehen, dünner als jemand, der 20 Stunden in der Woche trainiert. Vieles ist dort sehr auf das Äußerliche bezogen. Und vieles bleibt nur oberflächlich", findet sie. Dennoch habe sie auch sehr viele Leute und sogar enge Freunde gefunden, mit denen sie sich tiefgehend unterhalten konnte. "Dankbarkeit für die simplen Dinge im Leben, fallen den Menschen dort oft ein bisschen schwerer", sagt sie und ist gleichzeitig auch ein bisschen stolz darauf, dass sie andere mit ihrer eigenen Philosophie inspirieren konnte: "Dass es auch schön sein kann, wenn man einfach nur auf dem Balkon sitzt und zusammen kocht und dann zusammen isst. Dass es nicht immer fancier, größer, schicker sein muss. Ich schätze das einfach mehr, als in einem krassen Restaurant zu essen. Wo ich hohe Schuhe anziehe und dann schön aussehe und 80 Dollar für meine Experience zahle. Das ist einfach wichtig für mich", betont sie.

Ziele setzen

Keine Angst davor zu haben, sich große Ziele zu setzen, ist etwas, was sie in den USA gelernt habe. "Wenn ich sie mir nicht setze, werde ich sie vermutlich auch nie erreichen", ist auch Tratz mittlerweile überzeugt. Und wird das Ziel verfehlt, sei das für einen Amerikaner oder eine Amerikanerin kein Beinbruch. "Schauen, woran es gelegen hat und dann beim nächsten Mal einfach besser machen", sagt sie. 

Für Tratz selbst war diese Philosophie jedoch nicht immer so einfach, wie sie klingt. "Ich habe krasse Angst vor Enttäuschung. Weil es gefühlt immer gut gelaufen ist in meinem Leben. Das hört sich vielleicht blöd an, aber ich bin's gewohnt, was immer ich mache, gut darin zu sein. Eins kam nach dem anderen, Nationalmannschaft, dann Jugendmeisterschaft, dann EM und dann WM, dann Olympia qualifiziert, dann Olympia, dann Amerika, dann Champion, jetzt ein Abschluss in Communications, bam, bam, bam", zählt sie auf. Doch das alles werde ihr beim Einstieg ins Berufsleben nun nicht mehr viel helfen. "Im Turnen wusste ich immer, was ich kann. Ich konnte mich auf mich und meine Fähigkeiten verlassen. Wenn ich jetzt aber etwas völlig Neues ausprobiere, dann habe ich diese Sicherheit nicht mehr. Ich will es aber trotzdem machen", betont sie.

Bereit für neue Herausforderungen

Denn der Mut zu neuen Ufern aufzubrechen, wohnte schon vor der USA-Zeit in der ehemaligen Spitzenturnerin. "Ich mag turnen gerne. Und ich schätze Bildung sehr. Aber ich möchte nicht mein ganzes Leben lang im Turnen unterwegs sein. Ich bin bereit für neue Herausforderungen und Veränderungen", erklärt sie. Deswegen sei es auch damals für sie nie eine Option gewesen, zur Bundeswehr zu gehen, nur um noch weiter turnen zu können. "Ich war sehr zufrieden mit mir und meiner Karriere in der deutschen Nationalmannschaft. Ich konnte damit glücklich abschließen", sagt sie.  

Das Bewusstsein, dass die Welt größer und spannender ist als eine Turnhalle, hat die Unizeit in den USA auf jeden Fall gestärkt. "Man lernt extrem viel über sich selbst, über Kulturen und Weltansichten. Und man kann einfach so viele krasse Dinge mitnehmen, die einem vielleicht komplett verborgen geblieben wären, wenn man sich nicht aus der eigenen Komfort-Zone herausbewegt hätte", findet sie.

AUSGABE  International 03-2023 | Turn-Team Deutschland | Keine Angst vor großen Zielen
AUTOR       Nils B. Bohl