Eythora Elisabet Thorsdottir | Bildquelle: Picture Alliance
Turn-Team Deutschland

Women’s Artistic Gymnastics

Eleganz, Weiblichkeit und Kunst

Es gibt etwas, das Donatella Sacchi ihren Kampfrichterinnen gerne und regelmäßig über ihre gemeinsame Leidenschaft sagt. "Wir sind Women’s Artistic Gymnastics", so die Italienerin, die seit 2020 dem Technischen Komitee der Sportart vorsitzt. Das heißt: "Wir sind Frauen und präsentieren unsere Eleganz, unsere Weiblichkeit und damit ein Stück Kunst. Wir sind Turnerinnen und können so schwierige Elemente zeigen. Was für eine bessere Kombination kann es geben?"

Doch genau damit spricht die 64 Jahre alte Olympiateilnehmerin der Spiele 1976 in Montréal etwas an, das immer wieder für Diskussionsstoff sorgt: die Balance zwischen Akrobatik und Kunst.

Durch die Abschaffung der Höchstnote 10 für die Übungen, die Öffnung der Bewertung nach oben vor nunmehr 16 Jahren und die damit einhergehende Revolution im Turnen sei das Künstlerische im Turnen erst einmal "zusammengebrochen", wie Sacchi sagt. Das Augenmerk galt allgemein dem Erhöhen der Schwierigkeits-, der D-Note, "Kunst und Musikalität sind dabei auf der Strecke geblieben". Doch in der jüngeren Vergangenheit habe man vermehrt versucht, die verloren gegangenen Komponenten wieder zurückzubringen. Die Fachfrau sieht das Turnen dabei auf einem guten Weg, obgleich nicht am Ende der Entwicklung.

Mehr Harmonie zwischen den Schwierigkeiten

Der Code de Pointage, die internationalen Wertungsvorschriften, werden alle vier Jahre erneuert und gelten jeweils für einen Olympiazyklus. Zuletzt, also nach den Spielen von Tokio, die coronabedingt ein Jahr später als geplant ausgetragen wurden, habe man darin das Künstlerische gestärkt, die Anmut, die Weiblichkeit, den individuellen Ausdruck. "Ich denke, das ist uns gelungen", resümiert Sacchi. "Wir sehen deutlich bessere Übungen am Boden und auch am Schwebebalken mehr Harmonie zwischen den Schwierigkeiten."

Man lege mehr Wert auf saubere Technik und höchstmögliche Virtuosität. Und: "Der Code funktioniert für jede Turnerin", soll heißen: Egal, wo die jeweiligen Stärken liegen, in der Akrobatik oder der Gymnastik, "alle Typen haben die Möglichkeit, zu den besten Turnerinnen der Welt zu zählen".

Erhöhung des Durchschnittalters – mehr "Anführerinnen"

Das führte nicht zuletzt zu einer Erhöhung des Durchschnittsalters bei den Wettkämpfen. "Wir wollen die Turnerinnen länger im Wettkampf halten", sagt Sacchi. "Normalerweise verlieren wir nach Olympischen Spielen eine Generation an Turnerinnen, weil sie ihre Übungen nicht an die neuen Regeln anpassen können oder wollen." Aber jetzt habe man mehr dieser "Anführerinnen", die den Jüngeren als Vorbild dienen.

"Die Statistik zeigt, dass das Alter steigt", so die Südeuropäerin. Bei den Weltmeisterschaften in diesem Jahr in Antwerpen seien die Turnerinnen im Schnitt älter als 20 Jahre gewesen, "die 16- bis 17-Jährigen machen nicht mehr als 25 bis 30 Prozent aus", sagt Sacchi.

Code de Pointage – wenig Änderungen im neuen Zyklus

Aufgrund der aus Sicht der Verantwortlichen positiven Entwicklung wird der Code im nächsten Zyklus, der nach den Spielen 2024 in Paris beginnt, vergleichsweise wenige Veränderungen erleben. Sabrina Klaesberg, die aktuell führende deutsche Expertin auf diesem Gebiet, hat in ihrer auch schon mehr als 30 Jahre währenden Karriere als Kampfrichterin noch nie so wenige Wandlungen erlebt. "Das zeigt, dass wir auf einer guten Grundlage stehen", sagt sie.

Kritischer Punkt – die Subjektivität

Das Streben nach immer höheren Schwierigkeiten bleibt trotz der Gegenbewegung ein bedeutender Teil der kompositorischen Sportart. Auf die damit verbundenen Punkte vertrauten die Turnerinnen eher. "Wenn mein Doppelsalto nicht zum Desaster wird, kann ich mich darauf verlassen, seinen Wert zu bekommen", erklärt Sacchi. "Das Künstlerische ist subjektiver und hängt vom Wissen der jeweiligen Kampfrichterinnen ab. Das ist der kritische Punkt." Nicht alle Jurorinnen seien bestmöglich geschult, die Gründe dafür seien sehr unterschiedlich, könnten individueller Natur sein, aber beispielsweise auch darin bestehen, dass sie in ihrem Umfeld, in ihrem Land nicht oft genug Übungen sehen, wie sie sie später auf internationaler Ebene bewerten müssten. "Daran müssen wir noch viel arbeiten", sagt Sacchi.

Klaesberg bestätigt das aus nationaler Sicht. Zwar habe man versucht, objektive Kriterien zu schaffen für das Künstlerische, damit man nicht nur unterscheide zwischen "gefällt mir" und "gefällt mir nicht". Ein hohes Relevé am Balken als Anforderung beispielsweise. Oder ob die Gelenke wirklich aufgestreckt sind. Aber noch würden entsprechende Abzüge oft nur zögerlich vorgenommen. "Wir müssen den Kampfrichterinnen den Rücken stärken, damit sie sich trauen, diese Möglichkeiten anzuwenden", sagt die Vertreterin des Deutschen Turner-Bundes (DTB). Eine Hilfe soll dabei sein, dass ab 2025 auch ein Abzug von zwei Zehnteln vorgesehen ist, wo bislang nur ein oder drei Zehntel zur Wahl standen. Das könnte die Schwelle senken.

Simone Biles Owens mit ihrem Trainer Laurent Landi. Foto: Tom Weller/24passion

Schneller, Höher, Weiter – nicht auf Kosten des Risikos

Doch selbst wenn sich das alles noch besser einspielen, künstlerische Qualität und perfekte Linien konstant belohnt werden sollten, werde der Hang zum "Schneller, Höher, Weiter", wie man es in anderen Sportarten beschreiben würde, nicht ausbleiben, bedauert Sacchi. "Wir als Technisches Komitee haben nur die Möglichkeit, den Wert eines Elements abzusenken, wenn es uns als zu riskant erscheint." Als Beispiel dient der Doppelsalto mit Doppelschraube, den die US-amerikanische Olympiasiegerin Simone Biles Owens bei der WM 2019 in Stuttgart als Balkenabgang zeigte. Weil er nicht so hoch wie von der Erfinderin erwünscht eingestuft wurde, war er seitdem auch von der Höhenfliegerin selbst nicht mehr zu sehen. Dafür bewies diese bei der WM im Oktober in Antwerpen, dass sie auch ohne so ein Wagnis, mit besserer Ausführung, Gold auf dem nur zehn Zentimeter schmalen Grat holen kann.

Aus ähnlichen Gründen gebe es im eigenen Gremium keinerlei Diskussion darüber, in Zukunft Trainerinnen und Trainer an anderen Geräten als am Stufenbarren, wo auch leichtere Flüge bei Misslingen schwer kontrollierbar sind, zum Absichern auf dem Podium ohne Abzug zuzulassen. Biles Owens hatte in Belgien als erste Frau einen Jurtschenko mit Doppelsalto am Sprung gezeigt, und ihr Coach Laurent Landi stand im Wettkampf daneben. Das bedeute doch, dass selbst für ein so herausragendes Talent das Risiko als äußerst hoch erscheint, sagt Sacchi. Geschweige denn für eine Turnerin, die nicht über derartig außergewöhnliche Fähigkeiten verfüge.

Klasesberg ist überzeugt, dass der Trainer oder die Trainerin im Notfall "gar nichts retten" könnte. Seine Präsenz habe allein "einen psychologischen Effekt". Sie selbst habe in diesem Fall ein ungutes Gefühl. "Ich weiß nicht, ob man so ein Element dann wirklich turnen muss."

Auf nationaler Ebene komme man den Sportlerinnen auf anderem Weg entgegen, sagt Klaesberg. Abweichend von den internationalen Vorgaben sind Schiebematten am Barren oder Landematten am Boden erlaubt, um das Verletzungsrisiko zu senken.

Mehr Vielfalt

Im nächsten Code sollen am Boden akrobatische Verbindungen gefördert werden, damit Trainer*innen und Turnerinnen, wie Sacchi sagt, einerseits "nicht nur die ganz großen Schwierigkeiten in den Fokus nehmen", aber auch, um mehr Vielfalt zu entwickeln. Diese wäre ebenfalls wünschenswert.

"Fast alle hochklassigen Übungen an den verschiedenen Geräten beinhalten die gleichen Elemente", bestätigt Klaesberg. Nur in unterschiedlicher Reihenfolge und am Boden mit jeweils anderer Musik. Das sei früher, als man nicht nur die ganz hochwertigen Skills benötigte, noch anders gewesen. "Man könnte vielleicht mehr Elemente höher stufen, aber das würde auch wieder Diskussionen hervorrufen."

Eythora Thorsdottir bei ihrer Bodenübung (Video)

Minimaler Aufwand, maximaler Erfolg

Mit einem Minimum an Aufwand den maximalen Ertrag erreichen, das sei allgemein die Philosophie in den Hallen, sagt Sacchi. "Ich weiß das, ich war selbst Trainerin." Die Einstellung führe jedoch zu der angesprochenen Eintönigkeit. Am Balken gab es immerhin schon einen Wandel: Das Aneinanderreihen gymnastischer Elemente werde "flexibler" gehandhabt, damit die Anerkennung "keine Lotterie" darstelle, sagt Sacchi. Im Zweifelsfall werden Verbindungen jetzt öfter angerechnet, wenn auch mit Abzügen. "Das macht die Übungen schöner, und das genießt auch das Publikum."

Nina Derwael (BEL) in Aktion während des Finales am Stufenbarren bei den Geräturn-Weltmeisterschaften in Liverpool. Foto: Picture Alliance

Schulterprobleme vermeiden

Zu den wenigen Modifikationen im neuen Regelwerk zählt die Abwertung der Tkatschew-Elemente mit halber Längsachsendrehung am Barren. Diese Schwierigkeit zieht nach Aussagen der Spezialistinnen bei Nicht-Anerkennung die meisten Einsprüche nach sich. "Selbst Nina Derwael hat das 2022 bei der WM in Liverpool nicht angerechnet bekommen", sagt Klaesberg mit Blick auf die belgische Olympiasiegerin an den beiden Holmen. Allzu oft werde die Rotation erst nach dem Greifen des Holms eingeleitet und nicht, wie vorgesehen, schon im Flug. Das führe mit der Zeit auch oft zu Schulterproblemen, die man vermeiden wolle. Entsprechend soll es bald keinen Unterschied mehr geben zwischen Tkatschews mit und ohne halbe Drehung.

Besonders interessant auch aus nationaler Sicht findet Klaesberg, dass die Anforderungen am Sprung insofern heruntergeschraubt werden sollen, dass die Turnerinnen, wenn sie zwei Sprünge zeigen, diese nur noch aus zwei verschiedenen Gruppen auswählen und nicht mehr zusätzlich zwei unterschiedliche Flugphasen präsentieren müssen. "Wenn sie das doch tun, erhalten sie einen Bonus von zwei Zehnteln auf den Mittelwert", erklärt die erfahrene Jurorin. Mit der Vereinfachung wolle man mehr Turnerinnen dazu ermuntern, sich der Qualifikation für das jeweilige Sprungfinale zu stellen, denn die Zahl derer, die das zuletzt versuchten, sei sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene oft überschaubar gewesen.

Man habe viele Aspekte im Blick bei den Überlegungen, was man ändern müsse, sagt Sacchi. So habe eine Analyse ergeben, dass die Oberfläche des Sprungtischs sehr schlüpfrig sei, wenn die Turnerinnen nicht präzise arbeiten. Die Gerätehersteller haben deshalb den Auftrag erhalten, eine Lösung für dieses Problem zu finden.

Künstliche Intelligenz – für und wider

Beim Thema "Technische Innovationen" landet man schnell bei der von Fujitsu entwickelten Technologie, durch die die Bewertung von Künstlicher Intelligenz (KI) unterstützt werden kann. Bislang wird diese nur in Streitfällen genutzt, etwa bei Einsprüchen gegen die D-Note. Im Fokus stehe dabei oft der Durchschlagsprung zum Ring am Schwebebalken, wie Sacchi sagt. Mithilfe der Kameras lasse sich der "Bogen" besser beurteilen, die Distanz zwischen Fuß und Hinterkopf erkennen. Oder auch die Körperhaltung am Sprung bei der Frage, ob dieser als gebückt oder gestreckt zu werten sei.

Klaesberg kritisiert die mit einer allgemeinen Anwendung der Technologie einhergehende "Verzerrung". Solange sich nicht jede Nation eine solche zu Trainingszwecken leisten könne, entstehe eine immense Schieflage. Die Turnerinnen bekämen ihr Feedback in der Regel von menschlichen Kampfrichterinnen und würden dann nur bei ihren Hauptwettkämpfen anders bewertet. "Das finde ich schwierig." Zumal die Parameter von jemand eingegeben würden, der diese und damit die Ergebnisse bestimmt. "Wir können uns auch zu Tode kontrollieren", lautet das Fazit.

Die Technik könne bei langen Wettbewerben wie den WM-Vorkämpfen, bei denen die Kampfrichterinnen bisweilen zwölf Stunden lang mit wenigen Pausen am laufenden Band Übungen bewerten müssen, helfen, Konstanz zu gewährleisten, räumt Sacchi ein. Aber sie stoße spätestens beim Künstlerischen an Grenzen: "Es wäre schwierig, Parameter festzulegen, an denen sich das messen lässt“, sagt sie. "Das wäre, als würde man auf diese Weise versuchen, den Unterschied zwischen van Gogh und Picasso zu ermitteln."

Das Outfit – Teil der Darstellung?

Zur Darstellung zählt auch das Outfit, und da hatten die deutschen Turnerinnen mit ihrer Premiere im Ganzkörperdress bei den Europameisterschaften 2021 in Basel für Aufsehen gesorgt. "Sie waren nicht die Ersten, die so etwas trugen", betont Sacchi. Aber da sie sich auf hohem Level bewegten, sei das sehr aufgefallen. Durchgesetzt habe es sich nicht, sagt Klaesberg. Sie persönlich empfinde es aber als "optische Bereicherung", die sicher auch in unteren Regionen Nachahmerinnen finden werde.

Dass, anders als bei den Männern, schwarze Beinkleidung nicht verboten ist, liege daran, dass die Hosen bei den Frauen so eng wie Leggings anliegen, während sie sich bei den Kollegen durch den Gummisteg am Fuß spannen. Und, wie Klaesberg ergänzt, dass die langen Anzüge oft auch unten mit Glitzer dekoriert sind oder hautfarbene Teile den schwarzen Stoff durchbrechen. Bei bestimmten Lichtverhältnissen, wie sie in den mittlerweile oft abgedunkelten Hallen bei Großereignissen üblich sind, könne nicht nur das, sondern das genaue Hinsehen überhaupt trotzdem manchmal zum Problem werden. "Dann versuchen wir die Lampen zu modifizieren", sagt Sacchi. Schließlich sollen sich die Kampfrichterinnen weder vom Licht noch von mit Höchstschwierigkeiten gespickten Übungen, die nicht dem Wunsch nach guten Körperlinien und künstlerischer Wertigkeit entsprechen, blenden lassen. Der Trend zu dem, was wirklich dem Titel "Women’s Artistic Gymnastics" entspricht, soll weitergehen.

AUSGABE         Trends 05-2023 | Turn-Team Deutschland | Eleganz, Weiblichkeit und Kunst
AUTORIN          Katja Sturm