Sawao Kato und Mauno Nissinen | Bildquelle: Privat
Turn-Team Deutschland

Brücke der Generationen

Jukka Nissinen tritt in der Olympiahalle in die Fußstapfen seines Vaters

Nein, sagt Jukka Nissinen, besondere Rituale vor Wettkämpfen habe er eigentlich keine. Doch dann fällt dem Junioren Turner aus dem Turn-Team Deutschland mit den finnischen Wurzeln doch noch etwas ein.

"Ich gehe vor dem Wettkampf nochmal kalt duschen", erklärt der 16-Jährige. Das sei aber keinesfalls so ein spezielles Finnen-Ding. "Das machen die anderen auch. Einfach, um vor dem Wettkampf noch einmal ein bisschen wach zu werden". 

Vater und Sohn

Mit sechs Jahren fing Jukka in Frankfurt mit dem Turnen an. "Ich habe aber selbst mit 12 Jahren nebenbei immer noch Fußball gespielt. Dann habe ich mich aber für das Turnen entschieden", erzählt er. Und schickte sich damit an, in die Fußstapfen seines Vaters Mauno zu treten.

Der nahm nämlich als Turner zweimal für Finnland an den Olympischen Spielen teil. In Mexiko 1968 und auch 1972 in München. Just an der Stelle, wo Sohn Jukka nun im Junioren-Wettbewerb im Rahmen der European Championships sein Können vor heimischem Publikum darbieten will.

Viel haben die beiden über die Spiele 1972 noch nicht geredet. "Nur, dass es ein historischer Wettkampf sein wird. Dass er vor genau 50 Jahren in dieser Halle geturnt hat und jetzt ich", sagt Jukka. Und natürlich darüber, dass die Geräte jetzt alle viel besser seien als damals. Vor drei Jahren sei er schon einmal im Olympiapark gewesen, sei dort auch mit der Gedenkstätte für das Attentat an den israelischen Olympiateilnehmern konfrontiert worden. "Es war schon ein komisches Gefühl, zu wissen, dass an dieser Stelle ein Anschlag war. Und nun steht man 50 Jahre später selbst da. Ich denke, dass so etwas jetzt nicht mehr passieren kann. Aber damals war das sicher ein Schock", sagt er.

Die Geiselnahme

Das empfand auch Vater Mauno so, der damals ganz nah am Geschehen dran war. Mit ein paar Teamkollegen wollte er einen Ausflug nach Österreich machen, morgens um sechs Uhr.

"Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen. Ich habe die Tür aufgemacht, und gehe auf die Straße. Plötzlich sehe ich überall Polizei mit Waffen in Position. Das waren sehr viele. Ich habe mir gedacht, wird hier ein Film gedreht, oder was?", erinnert er sich. "Dann haben sie uns sofort geschnappt und uns gesagt, sofort weg hier! Nur 15 Meter weiter sind die Terroristen."

München 1972 – Gegenentwurf zu Berlin 1936

München, sagt Vater Mauno, wollte die offenen, heiteren Spiele organisieren, ohne Gigantismus und Nationalismus. So seien auch die Sicherheitsmaßnahmen wesentlich geringer gewesen. "Deutschland wollte das Bild von 1936 etwas ändern", glaubt er. Weg von den gigantischen Nazi-Spielen von Adolf Hitler, als das Land in einem Jahr Winter- und Sommerspiele hatte. "Sie wollten einen Gegenentwurf dazu machen. Und eine Woche lang waren sie ja auch erfolgreich damit", sagt er. Vor allem das Olympiagelände, das sei fantastisch gewesen. "Mit diesem Dach. Und die Sportler konnten vom olympischen Dorf zu Fuß zur Turnhalle. Das waren schon farbige Spiele. Was dann passierte, änderte natürlich die gesamte Situation", blickt er zurück.

Ein Freund unter den Opfern

Für Mauno gab es neben dem allgemeinen Schock aber damals noch einen weiteren, sehr traurigen Aspekt zu verarbeiten. "Ich hatte meine Vorbereitung in Magglingen in der Schweiz gemacht. Da habe ich einen israelischen Leichtathletiktrainer kennengelernt. Er war da mit einer jungen Hürdenläuferin. Wir haben einen Monat lang zusammen gefrühstückt", erzählt er. Wiedergesehen hat er den Israeli dann erst nach der gescheiterten Befreiungsaktion. "Da sehe ich die Liste der Opfer, mit dem Bild, von ihm. Ich weiß noch genau, er hieß Amitzur Schapira. Er war eigentlich schon ein Freund geworden", sagt Mauno.

Olympische Spiele & Politik

Wenn ihm daher jemand sage, Olympische Spiele und Politik seien getrennte Dinge, die man nicht vermischen könne und dürfe, verstehe er das nicht. "Das waren sie noch nie. Sei es 1936 oder die Spiele in China. Das sind politische Spiele gewesen. Selbst als wir 1968 nach Mexiko geflogen sind, war eine Demonstration in Helsinki, weil sie vorher 300 Studenten erschossen hatten", sagt Mauno. Und natürlich habe man bei den Spielen 1972 Dachau besucht. "Und auch der Nationalismus und der Terrorismus in der Welt haben bis heute nicht nachgelassen", betont er.

Mehrheit der Finnen für Natobeitritt

Dass russische und weißrussische Athletinnen und Athleten nicht in München am Start sein dürfen, unterstützt Nissinen aus diesem Standpunkt heraus ohne Wenn und Aber. "Diese EM ist natürlich ohne die Russen schon ein bisschen außergewöhnlich", räumt er jedoch ein. Doch es ist ihm wichtig, auch hier ein Zeichen zu setzen.

"Du redest gerade mit einem Finnen. Wir haben eigentlich 1000 Jahre lang irgendwelche Kriege gegen Russland geführt", sagt er. Vor dem Einmarsch der Russen in die Ukraine seien 20 Prozent der Finnen für einen Natobeitritt gewesen, jetzt seien es 80 Prozent. "Nur acht Abgeordnete hätten dagegen gestimmt. Und ich glaube, die wurden schon mit dem Auto nach Russland transportiert", fügt er mit einem Augenzwinkern hinzu.

Wie sehr die finnische Seele mit der ukrainischen mitleidet, erklärt er dann noch anhand einer Fernsehübertragung. Seine Schwester habe ihm gerade heute ein Bild geschickt, auf dem zu sehen war, wie eine Friedensstatue abgebaut wurde. Ein russisches Geschenk. Er selbst habe den Abtransport auf einem Ponton-Schiff zwei Stunden vorher live in der Turnhalle auf dem Handy gesehen.

Die Leute fragten mich, was schaust du da? Ich habe gesagt, das ist das billigste finnische Fernsehprogramm. Und es hat Einschaltquoten wie eine Eishockey-WM.

Wer ist nervöser? Der Vater oder der Sohn?

Auf viele Zuschauerinnen und Zuschauer hofft auch Jukka in der Olympiahalle von München. Einschließlich der gesamten Familie. "Ich finde das gut. Mich macht das nicht besonders nervös. Wie das bei meinen Eltern ist, weiß ich allerdings nicht", grinst er. Denn Vater Mauno ist sich der Schwierigkeit der Aufgabe bewusst.

Finalplätze gebe es in München nicht geschenkt. "Da muss alles passen, das ist alles so eng zusammen, das haben die Wettkämpfe beim EYOF gezeigt", sagt er und hat auch gleich Zahlen parat, die seine These untermauern. "Ein Unterschied der European Championships zu den Spielen damals ist, dass damals nur drei Länder im Turnen Medaillen gewonnen haben. Japan 15, Russland fünf und die DDR eine. Beim European Youth Festival im Juli haben allein im Turnen 13 Länder eine Medaille gewonnen", sagt er.

Trauzeuge Mauno Nissinen

Dabei war auch Finnland einmal eine große Supermacht im Turnen. "1948 haben die allein im Turnen sechs Goldmedaillen geholt", weiß Mauno. Dann jedoch seien die Länder aufgestiegen, deren Hallenentwicklung und Sportkonzepte ganz anders gewesen seien.

"Wir Finnen sind dagegen stehengeblieben. Deswegen bin ich damals auch direkt nach dem Abitur in die USA", erzählt er.

Als er mit seiner Ausbildung in Finnland fertig gewesen sei, habe er seine Trainingsmöglichkeiten in der DDR gesehen.

"Ich wollte in Leipzig studieren und trainieren. Da war ich im Konsulat. Dort war die erste Frage, in welchem Verband ich bin. Denn es gab in Finnland damals einen Arbeiterverband und einen Nationalverband. Da habe ich gesagt, auf Wiedersehen. Wäre ich im Arbeiterverband gewesen, hätte ich wahrscheinlich ein Stipendium bekommen. So musste ich zu den Kapitalisten", lacht Nissinen. Über seine Verbindungen zum deutschen Reck-Weltmeister Eberhard Gienger sei er dann irgendwann nach Frankfurt gekommen. "Der Eberhard hatte überall seine Finger mit drin", sagt er und verrät dann noch, warum er das alles so genau weiß:

"Ich bin nämlich sein Trauzeuge", lächelt der 74-Jährige.

Jukka fokussiert auf München

An Sohn Jukka Nissinen driften diese alten Geschichten derzeit aber wohl weitestgehend vorbei. Nach seiner Goldmedaille bei den Europäischen Olympischen Jugendspielen am Barren will er fokussiert darauf bleiben, in München noch etwas nachzulegen.

"Wir konzentrieren uns darauf, dass wir die Übungen sehr gut durchturnen. Und dann schauen wir einfach mal, wofür das reicht. Wenn ich meine Übungen so turne, wie ich das kann und wie ich mir das vorstelle, dann könnte es auch bei der Junioren-EM für das ein oder andere Finale reichen", ist er überzeugt.

"Ich freue mich auf jeden Fall darauf", will er aber in jedem Fall die Nissinen-Fahne in der Olympiahalle möglichst wieder hochhalten. 

Goldmedaille für Jukka bei den Europäischen Olympischen Jugendspielen am Barren.

AUSGABE  München 04-2022 | Turn-Team Deutschland | Brücke der Generationen 
AUTOR       Nils B. Bohl