Weihnachtskonzert TV Niederbrechen | Bildquelle: Hans Jürgen Schermuly
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Das Symphonische Blasorchester des TV Niederbrechen

Keine Dicke-Backen-Musik

Michael Steiner weiß um die Bilder und spöttischen Bemerkungen, die manchem beim Thema Blasmusik in den Sinn kommen: Dicke Backen oder "diejenigen, die mit ihren Instrumenten die Schlürfgeräusche beim Biertrinken im Festzelt übertönen".

Dabei, sagt der 53-Jährige, seien die Möglichkeiten der Blasmusik äußerst vielfältig. Es gebe weltweit Noten quasi für alles: für Traditionelle Volksmusik natürlich, aber auch für Filmmusik, Musicals, Rock, Pop, Crossover oder auch Transkriptionen aus der Klassik. Natürlich und vor allem auch Originalkompositionen und das jeweils in allen Leistungsstufen und Besetzungsformen.

(Bild: Orchesterreise des Turnvereins Niederbrechen Kuchl 2018. Hans Jürgen Schermuly)

Leidenschaft für Musik in die Wiege gelegt

Dem Leiter und Dirigenten des Symphonischen Blasorchesters im Turnverein Niederbrechen bei Limburg an der Lahn wurde die Leidenschaft für diese Art von Musik schon in die Wiege gelegt. Sein Vater war ein Heimatvertriebener aus dem Sudetenland. Für die Spielmannszüge, die früher in den Turnvereinen weit verbreitet waren und es auch heute noch in nördlicheren Gefilden sind, konnte er sich wenig begeistern, befürwortete den Musikstil, den er aus seiner Heimat kannte: die Egerländer Blasmusik.

Als der passionierte Akkordeon- und Trompetenspezialist aus Liebe in Hessen sesshaft geworden war, übernahm Hans Steiner im TV Niederbrechen die Ausbildung der Fanfarenbläser und sorgte im Laufe der Zeit dafür, dass sich der seit 1949 bestehende Spielmannszug zum Blasorchester wandelte. 

Ähnlich seien unterm Dach des Deutschen Turner-Bundes (DTB) auch andernorts derartige Formationen entstanden, sagt Michael Steiner, der wie sein älterer Bruder schon früh an Saxophon und Klarinette herangeführt wurde. "Es gab damals ja noch nicht so viele Angebote im Freizeitbereich auf dem Dorf" neben Fußball oder Turnen, erzählt er. So wurde in den 1970er gleich noch ein Jugendorchester in Niederbrechen gegründet, das den "Nährboden" für das heutige Ensemble darstellen sollte.

Vorfreude auf das erste Deutsche Turnermusikfest

Umso wichtiger sei es, dass nun, nach der Pandemie, Ende April/Anfang Mai beim Bayerischen Landesturnfest in Regensburg ein erstes Deutsches Turnermusikfest stattfindet. Die Zeit zwischen dem vergangenen Internationalen Deutschen Turnfest 2017 in Berlin und dem in Leipzig, das coronabedingt ausgefallen war und 2025 nachgeholt werden soll, wäre für die Jugendlichen sonst zu lang geworden. Es seien solche prägenden Erfahrungen, die zusammenschweißen und dafür sorgen, dass die Instrumentalisten langfristig den Orchestern treu bleiben.

Das Wertungsmusizieren

Vor allem dem Wertungsmusizieren gilt bei den Turnfesten das Augenmerk der Brechener Musikanten. Das Mitmarschieren beim Festzug gehöre im eigenen Verein genauso wenig zu den "Kerngeschäften" wie das Spielen auf Volksfesten. "Der Fokus liegt bei uns auf dem Konzertanten", sagt Steiner, der die Leitung des Orchesters 1998 von seinem Vater übernahm, nachdem er von 1992 bis 1998 das Jugendorchester des Vereins leitete. Von 2009 bis 2017 legte er aus privaten Gründen eine längere Pause ein.

So stehen im eigenen Vereinsprogramm mehrere sich jährlich wiederholende Konzerte. Jenes in der Weihnachtszeit füllte den ortseigenen "Dom im Goldenen Grund" zuletzt mit 500 Leuten und spielte 3.333 Euro für einen guten Zweck ein. Ein paar Monate zuvor wurde vor 400 Gästen dem Filmkomponisten John Williams zu seinem 90. Geburtstag Ehre erwiesen, was durch ein Förderprojekt für Kultur im ländlichen Raum möglich geworden war.

Jährliches Weihnachtskonzert im "Dom im Goldenen Grund", Niederbrechen

Die Besetzung

"Unsere Besetzung ist schon besonders", betont Steiner. Wir können uns glücklich schätzen, dass wir über eine komplette Besetzung eines symphonischen Blasorchesters verfügen.

Das Jugendorchester des TV Niederbrechen

Sie umfasst Piccoloflöte/Flöte, Oboe, Englischhorn, Fagott, Klarinette inkl. Alt-und Bassklarinette, Saxophon, Trompete, Horn, Euphonium, Posaune, Tuba Kontrabass bis hin zur Harfe. Ein umfassendes Schlagwerkregister inbegriffen. Dass manche Mitglieder breit aufgestellt sind, zusätzlich Keyboard, Gitarre oder E-Bass spielen, hilft, wenn ein Song von Queen ansteht. Bei einem aktuellen Werk imitieren die Schlagzeuger auf Tischen zu irischen Klängen das Geräusch der Steps, für das sonst Tänzerinnen und Tänzer sorgen. Manchmal bewegen sich die Orchestermitglieder auch in einer kleinen Choreografie selbst im Rhythmus mit. "Man kann ja nicht die ganze Zeit nur steif dasitzen", sagt Steiner.

Der frühere Dozent des Hessischen Turnverbandes hat sein eigenes Können am Dirigentenpult fortwährend erweitert: Erst bei Lehrgängen an der Turner-Musik-Akademie in Bad Gandersheim, dann, berufsbegleitend, über eine B-Lizenz beim Rundfunkorchester in Leipzig, wo er vor Profis stand und seine Kollegen Instrumentalisten mit Musikhochschulabschlüssen waren. "In der Theorie waren die mir überlegen", erzählt Steiner. Dafür hatte er zuvor schon zehn Jahre Erfahrung als Orchesterleiter gesammelt.

Nachholbedarf bei der Blasmusik in Deutschland

Obwohl mancher Blasmusik und Deutschland als feste Verbindung ansehen würde, sieht Steiner hierzulande Nachholbedarf, was Image und Bedeutung der Sparte angeht. "In Asien hat Blasmusik einen ganz hohen Stellenwert." In den USA seien die meisten Collegebands Blasorchester und so in die Schulen integriert, dass sie wie selbstverständlich die populären Footballspiele einleiten. Auf den britischen Inseln hätten die sogenannten Brassbands eine lange Geschichte, was auch daraus resultiere, dass es früher in solch feuchten Ländern schwer gewesen sei, Geigen oder ähnliche Instrumente so trocken zu lagern, dass diese sich nicht verstimmten. "Da waren vor allem die Blechblasinstrumente resistenter", und ihre Vertreter hätten sich deshalb durchsetzen können.

Komponisten und Verlage weltweit sorgten immer wieder für Nachschub, was neue Werke angeht. Doch auch das Traditionelle verkomme nicht. Gerade im Süden der Republik sieht Steiner einen Trend, dass junge Leute sich wieder mit dem beschäftigen, was die Eltern und Großeltern schon kannten.

Egal, wie das bei manch anderen ankommt.

AUSGABE  Musik 01-2023 | Mehr Sport | Keine Dicke-Backen-Musik
AUTORIN   Katja Sturm