TGM/TGW | Bildquelle: Bernd Anich
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TGM/TGW

Das große Gemeinschaftsgefühl

TGM/TGW – was für viele Nicht-Turnerinnen und -Turner erst mal ein Rätsel zu sein scheint, bedeutet für Jan-Ole Hochgräber "Familie". Nicht nur, weil es seine Mutter Simone war, die den heute 25-Jährigen als Kind zu diesem Gruppenwahlwettkampf brachte. Oder weil er seine Frau Sofia Steffan dabei kennenlernte.

TGM/TGW, das steht aus Sicht des Berliners für ein großes Gemeinschaftsgefühl. Im eigenen Team ebenso wie beim Miteinander der Vereinsformationen aus ganz Deutschland, die teilweise schon seit vielen Jahren gegeneinander antreten.

Messbare und nicht-messbare Disziplinen

Doch was genau verbirgt sich hinter dieser Abkürzung? Ein Wettstreit, bei dem die Mannschaften beim Turnerjugend-Gruppenwettkampf (TGW) in drei, bei der Meisterschaft (TGM) in vier Disziplinen starten. Da gibt es die messbaren Herausforderungen Medizinball-Weitwurf, Orientierungslauf, Schwimmen und Staffellauf sowie die künstlerischen Tanzen, Turnen, Gymnastik mit Handgeräten und Singen.

Aus Letzteren müssen sich die Gruppen, je nach Klasse, mindestens eine oder zwei heraussuchen. Es gibt jeweils drei Altersklassen bei der TGM oder dem TGW, aber es spielt keine Rolle, ob ein Team nur aus männlichen Mitgliedern, nur aus weiblichen oder einem Geschlechter-Mix besteht: Alle starten in einem Wettbewerb.

Gute Bindung an das Gerätturnen

Gerade bei den Jungen, die frühzeitig dazu neigten, aus dem Gerätturnen auszusteigen, wenn sie den Sprung in den Leistungsbereich nicht schaffen oder ablehnen, biete man so einen Anreiz, länger dabei zu bleiben, sagt Hochgräber. Er selbst fing als Siebenjähriger beim TSV GutsMuths Berlin mit dem für den Nachwuchs geschaffenen Schülergruppen-Wettstreit an.

Simone Hochgräber hatte den vielfältigen Vergleich zehn Jahre zuvor vom Deutschen Turnfest aus Hamburg mit in ihren Verein gebracht; selbst bis heute als Trainerin und Fachwartin dafür in Berlin tätig, leitete sie damit eine Erfolgsgeschichte ein. Neun Gruppen existieren aktuell bei den Moabitern.

Sofia Steffan, die von Babybeinen an beim TSV an den Geräten übte und heute 29 Jahre alt ist, stieg mit acht in den vielseitigen Vergleich ein und trainiert, wie ihr Mann, seit ein paar Jahren auch selbst Gruppen. Doch beide sind auch weiter in ihren eigenen Teams aktiv, mit Kolleginnen und Kollegen, mit denen zusammen sie teilweise schon als Kinder übten.

Wartelisten bei GutsMuths in Moabit

Die Begeisterung ist im eigenen Umfeld so groß, dass es bei GutsMuths sogar Wartelisten für die TGM/TGW Gruppen gibt. "Die Eltern wissen mittlerweile, was sie daran haben", sagt Steffan.

Der Sport bindet die Kinder langfristig an ein soziales Gefüge.

Obwohl natürlich alle dafür trainieren, möglichst gut zu sein, zähle nicht in erster Linie die Leistung, betont Hochgräber. "Wir stellen keine Kader der Besten zusammen. Jeder kann sich einbringen, es ist Platz für alle da." Der eine singe schöner, der andere laufe stark. "Aber es geht auch darum, dass man in die Gruppe passt und das Gruppengefühl stärken kann", sagt Steffan.

Die Gruppentreffen

Bei den Wettkämpfen, die als Treffen bezeichnet werden, steht der Spaß im Vordergrund. In der Regel ziehen sich die Ausflüge über drei Tage, denn am Wettkampfmorgen geht es schon früh los, und am Abend ist Party angesagt. "Wenn eine Gruppe zwischendrin mal frei hat, schaut sie bei den anderen zu und feuert an", erzählt Hochgräber. Es herrsche Respekt vor den Leistungen der anderen, denn jeder wisse, wie der Weg dorthin aussieht.

Männer- und Frauengruppen, aber auch gemischte

Seine eigene Männergruppe, die sich unter anderem dem Tanzen verschrieben hat, erntet stets viel Beifall. "Wir haben mal mit einem Cowboytanz in karierten Hemden angefangen, bei dem wir im Hopserlauf über die Fläche gehüpft sind", erzählt Hochgräber.

Mittlerweile sind die Choreografien ausgefeilter, und acht Männer, die sich rhythmisch zusammen auf der Fläche bewegen, äußerst selten. Die Stimmung erreicht ihren Höhepunkt bei der sogenannten "Show der Sieger", bei der einzelne Vorführungen wiederholt und von der Konkurrenz gefeiert werden.

2.000 bis 2.500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren vor der Pandemie nach erfolgreicher Qualifikation in den Landesverbänden auf Bundesebene dabei; etwa 16.000 (SGW-), TGW-  und TGM-Aktive soll es insgesamt in Deutschland geben. Internationale Vergleiche fehlen, weil es in anderen Ländern an ähnlichen Angeboten mangelt. Zudem mussten die nationalen Treffen in den vergangenen drei Jahren ausfallen; in Berlin beschloss man zuletzt kurzfristig, die Schulen, in denen die Gruppen übernachten, nicht für diese zu öffnen. "Dabei hinterlassen wir die Räume oft sauberer, als wir sie vorfinden", sagt Steffan.

Quo vadis?

Die Suche nach geeigneten Ausrichter*innen, aber auch die Zukunft ihrer Sportart an sich gehören zu den Themen, die die ehrenamtlich Engagierten im TGM/TGW-Bereich seit 2019 jährlich beim Wochenend-Workshop "Quo vadis" diskutieren.

So stand mal das Thema Schwimmen auf dem Plan, denn daran wagen sich oft wenige Gruppen. Die Wertungstabellen wurden daraufhin so verändert, dass der Sprung ins Becken sich mehr lohnt. Pro Disziplin sind bis zu zehn Punkte zu erreichen.

Trainingsmöglichkeiten bestimmen Disziplinauswahl

Oft seien es die Trainingsmöglichkeiten, die die Auswahl der Disziplinen bestimmten, sagt Steffan. Den Medizinball wie vorgeschrieben aus dem Stand über den Kopf hinweg nach hinten zu werfen, ist schnell und einfach überall, draußen wie drinnen, möglich. "Bei uns hat unsere Trainerin am Anfang gesagt, dass wir singen, weil wir keine zweite Einheit in der Halle hatten, um neben Turnen auch noch Tanzen zu üben", so Steffan. "Aber wir singen auch gut."

Wie ihr Mann, der im Februar sein Referendariat beginnt, hat Steffan in Potsdam Lehramt studiert und gerade das zweite Staatsexamen unter Dach und Fach gebracht. Sich nebenbei noch so intensiv mit TGM/TGW zu beschäftigen, sei ein guter Ausgleich. Im Kreativitätsprozess des Erstellens und Entwickelns neuer Übungen werden, ganz TGW-typisch alle Gruppenmitglieder mit einbezogen. Hochgräber gefällt der Freiraum sehr, den man dabei habe: Ob Hip-Hop, Modern Dance oder was auch immer für ein Stil, alles ist hierbei erlaubt.

Beide bringen sich trotz knappen Zeitbudgets auch bei den Zukunfts-Workshops ein. TGM/TGW soll noch mehr für alle geöffnet werden. Erste Experimente wurden bereits gewagt, Altersklassen noch offener zu gestalten, Überlegungen angestellt, wie man beispielsweise Behinderte integriert oder mit der Transgender-Frage in den Wertungstabellen umgeht.

"Wir wollen in jeder Hinsicht Vielfalt repräsentieren", sagt Steffan.

Die Familie soll noch bunter und größer werden.

AUSGABE  Sportarten 06-2022 | Mehr Sport | Das große Gemeinschaftsgefühl
AUTORIN   Katja Sturm