Dagmar Spille | Bildquelle: Privat
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Faustball

Als der Sport Grenzen überwindet

Am Schweriner Bahnhof schallt es aus den Bahnsteig-Lautsprechern: "Wir begrüßen die Teilnehmer an den DDR-Meisterschaften im Faustball und wünschen ihnen gute sportliche Erfolge". Es ist Samstag, der 12. März 1988. An diesem Wochenende schaut der DDR-Faustball auf die damalige Bezirkshauptstadt. Die besten Vereinsteams der Männer und Frauen treten zu den Hallentitelkämpfen an. Was an diesem Samstagmorgen noch niemand weiß: Die gastgebende Frauenmannschaft der Betriebssportgemeinschaft (BSG) Lok Schwerin befindet sich in dem wohl aufregendsten Jahr ihrer Geschichte. Erst feiern sie nur einen Tag später ihren ersten Meistertitel, dann brechen sie zwei Monate später zu einer Reise in den Westen auf, die für Spielerin Dagmar Stammann zu einer ganz besonderen wird.

(Bild: DDR-Meister BSG Lok Schwerin, untere Reihe)

DDR-Meister BSG Lok Schwerin

In der Sport- und Kongresshalle werden am zweiten Märzwochenende 1988 aber zunächst die neuen DDR-Meister ausgespielt. Die Schweriner Mannschaft verfolgt dabei ein großes Ziel. Jahrelang hatte man sowohl in der Feld- als auch in der Hallensaison den Angriff auf den Meistertitel gewagt. Von 1981 bis 1988 sprangen dabei elf Podestplätzen heraus – allein von acht Meisterschaften kehrte das Team mit der Silbermedaille heim. Einzig ein Meistertitel blieb der Mannschaft von Trainer Horst Stammann bisher verwehrt. Der Grund kommt aus der Oberlausitz. Die BSG Chemie Weißwasser war bisher in keinem Endspiel zu bezwingen, ist seit zehn Jahren Seriensieger. Und ausgerechnet diese BSG ist in der Sport- und Kongresshalle wieder der Finalgegner. Nach gutem Schweriner Start mit einer Satzführung (13:11), dreht Weißwasser aber auf (12:5).

"Wir hatten schon so oft gegen Weißwasser geführt und dann doch noch verloren", erinnert sich Dagmar Spille.

Die damals 24-Jährige heißt damals noch Dagmar Stammann, ist die Tochter von Coach Horst und ist eigentlich wichtige Stütze im Schweriner Spiel. Nach einem Kreuzbandriss kann sie in diesem Finale aber nur von der Seitenlinie mitzittern. Und auch im entscheidenden dritten Durchgang scheinen die Gastgeberinnen Nervenflattern zu bekommen. Beim Stand von 11:3 fehlt nur noch ein Punkt, doch Weißwasser verkürzt auf 6:11. Doch dann bringt ein zu weit geschlagener BSG-Ball die Entscheidung. Er landet außerhalb des Spielfeldes – die Schweriner Frauen samt Dagmar Stammann sind zum ersten Mal DDR-Meister!

Es soll nicht der einzige Höhepunkt in diesem Jahr 1988 bleiben.

Schließlich stehen die Schwerinerinnen im Internationalen Sportkalender und sollen zu einem Vergleichsspiel in der Bundesrepublik antreten. Für die Faustballerinnen und Faustballer ist das etwas ganz Besonders. Nach dem "Olympia-Beschluss" des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB) 1971 wird sich in der DDR auf ausgewählte olympische Sportarten konzentriert.

Disziplinen, die nicht mehr unterstützt werden, dürfen auch nicht mehr im Westen starten. Für die DDR-Faustballer*innen kommt erschwerend hinzu, das man zu dieser Zeit das einzige sozialistische Land ist, in dem Faustball gespielt wird. Ansätze, Tschechien oder Polen für den Sport zu begeistern, scheitern früh. Seit 16 Jahren ist somit keine DDR-Mannschaft mehr außerhalb des eigenen Landes zu einem Spiel angetreten.

Ansätze, Tschechien oder Polen für den Sport zu begeistern, scheitern früh.

Städtepartnerschaft öffnet "die Grenze"

Das soll sich nun ändern. "Im Rahmen unserer Städtepartnerschaft mit Wuppertal sollten wir zu einem internationalen Vergleich im Westen starten", erinnert sich Dagmar Spille. Tipps kann sie sich dabei von ihrer Mutter Renate holen, die 1957 bei den beiden bisher einzigen Länderspielen einer DDR-Nationalmannschaft in Österreich zum Einsatz kam. Nun darf Dagmar also in die Bundesrepublik reisen. "Unsere Vorbereitungen liefen auf Hochtouren – intensives Training und einige Seminarstunden in Politik waren bereits absolviert – als aus Wuppertal eine Absage kam", erinnert sie sich. Der erste internationale Auftritt eines Damenteams aus der DDR in der Bundesrepublik droht zu platzen und lässt enttäuschte Spielerinnen zurück.

Wir hatten uns damit abgefunden, nun doch nicht zu den wenigen Sportlern einer nichtolympischen Disziplin zu gehören, die ins westliche Ausland durften.

Doch dann geht alles ganz schnell: Ende April werden innerhalb weniger Wochen die Planungen wieder aufgenommen. Das Ziel ist nun nicht Nordrhein-Westfalen, sondern das niedersächsische Brettorf, von dem bis zu diesem Zeitpunkt keine der Spielerinnen jemals etwas gehört hatte. Die Brettorfer hatten sich bereits 1986 in den Internationalen Faustballkalender aufnehmen lassen. "An die Bewerbung hatte schon niemand mehr gedacht, als wir die offizielle Information erhalten haben, dass ein Vergleich mit einer Frauenmannschaft aus Schwerin möglich wäre", erinnert sich Ralf Spille, der zu dieser Zeit 2. Vorsitzender im TVB ist.

Ein Sieg war Pflicht

Pfingsten 1988 machen sich dann neun Schweriner Spielerinnen, samt Trainer Horst Stammann und weitere Delegationsmitglieder auf den Weg in das Dorf mit seinen 700 Einwohnern in Niedersachsen. "Keiner von uns wusste was ihn so genau erwartet – nur eines war klar: ein Sieg war Pflicht", erzählt Dagmar Spille. Am Freitagnachmittag trifft der Bus aus der DDR in Brettorf ein. Nach einem Empfang absolvieren die Spielerinnen noch eine kurze Trainingseinheit – ehe einen Tag später, am 20. Mai 1988, die Spiele der ersten und zweiten Mannschaften beider Vereine auf dem Programm stehen. Das Spiel der "Zweiten" gewinnt Brettorf – und sieht kurz darauf auch im Hauptspiel beim Stand von 2:0 wie der sichere Sieger aus. "Wir sind mit den druckvollen Angriffen und der Linksschlägerin aus Brettorf überhaupt nicht zurechtgekommen", berichtet Dagmar Spille. Nach Wechseln auf beiden Seiten – bei Schwerin kommt die nach einer Meniskusverletzung gerade wieder genesene BSG-Zuspielerin in die Partie – dreht das Team aus der DDR das Spiel aber noch in einen 3:2-Sieg. "Uns ist ein großer Stein vom Herzen gefallen", sagt Spille, die besonders vom Brettorfer Publikum beeindruckt ist: "Die Begeisterung der Zuschauer für uns war einmalig. Wir konnten ihre Herzlichkeit spüren und man hatte sogar das Gefühl, dass man uns den Sieg in gewisser Weise gegönnt hat."

Sport überwindet Grenzen

Neben den sportlichen Wettkämpfen stehen für die Gäste aus der DDR ein Besuch im nahen Bremen und ein offizieller Empfang der beiden Delegationen durch die Gemeinde Dötlingen an. Zum Ende des Besuches schwindet auch die anfängliche Zurückhaltung auf beiden Seiten.

"Auf der Rückfahrt hatten wir eine Menge Eindrücke von drei erlebnisreichen, aufregenden Tagen und die Gewissheit, dass der Sport Grenzen überwinden hilft", blickt Dagmar Spille zurück.

Und: Ein Gegenbesuch ist bereits geplant.

Der TV Brettorf wird für das Jahr 1990 wieder in den Sportkalender eingetragen, um zum Rückspiel in Schwerin anzutreten. Doch zum erneuten Vergleich zwischen den Vereinen aus BRD und DDR kommt es in der geplanten Form nicht mehr. Mit den Ereignissen des 9. Novembers 1989 gibt es keinen Sportkalender mehr. Einen Gegenbesuch gibt es dennoch. An Ostern 1990 sind 60 Brettorfer in Schwerin zu Gast und erleben eine Neuauflage des Duells von 1988.

Fest steht:

Dieses einmalige Faustball-Duell zwischen Ost und West wird die Vereine aus Schwerin und Brettorf für immer verbinden, Spielerin Dagmar Spille sogar ganz besonders. Nach der Wende kommt sie in die Gemeinde Dötlingen zurück. Und sie bleibt. Das kleine Örtchen Brettorf, von dem sie bis ins Frühjahr 1988 noch nie etwas gehört hatte, wird ihr neues Zuhause.

AUSGABE  175 Jahre 02-2023 | Mehr Sport | Als der Sport Grenzen überwindet
AUTOR      Sönke Spille