Isabel Pietro | Bildquelle: Larissa von Behren
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Rhönradturnen

Achterbahn für die Turnhalle

Isabel Pietro ist seit knapp 20 Jahren Rhönradturnerin. In diesem Jahr hat sie WM-Bronze gewonnen. Endlich. Nun ist es für die 29-Jährige an der Zeit, die aktive Karriere zu beenden und sich ganz der Verbreitung dieser von einem Deutschen entwickelten Sportart zu widmen.

Geht mehr körperliche Verwirrung?

Wer Fabian Hambüchen zu seinen besten Zeiten am Reck beobachtet hat oder Elisabeth Seitz zuletzt am Stufenbarren, dem konnte schon mal allein vom Zuschauen schwindelig werden. Mehr Verwirrung für den menschlichen Körper geht nicht, oder? Doch, geht. Man nehme ein Rhönrad, spanne seinen Körper hinein und vollführe wildeste Turnbewegungen – während sich das Gerät selbst auch noch dreht und hin und wieder die Richtung wechselt.

"Es ist vorgekommen, dass ich völlig lost im Rhönrad hing und nicht mehr wusste, wo im Raum ich mich eigentlich befinde", erzählt Isabel Pietro. Aber genau das sei nun mal das Faszinierende an ihrem Sport: "Turnerin UND Gerät bewegen sich, das macht die Orientierung zu einer spannenden Sache." Andere Vorurteile zu ihrer Sportart dementiert die 29-Jährige hingegen: Nein, man rollt sich nicht regelmäßig selbst über die Finger. Und nein, es werde einem auch nicht ständig schwindelig beim Turnen.

Rhönradturnen, also zwischen zwei Stahlreifen hin und her zu rollen und dabei turnerische Höchstleistungen zu vollbringen, ist eine deutsche Erfindung – und Spezialität. Im internationalen Vergleich führt kein Weg an den Deutschen vorbei. So holte das Team des Deutschen Turner-Bundes (DTB) bei den Weltmeisterschaften in diesem Frühsommer in Dänemark 26 von 54 Medaillen. Bei den Frauen waren DTB-Athletinnen an allen vier Titelgewinnen beteiligt: Karina Peisker triumphierte im Mehrkampf, war Teil des ungewöhnlichen Siegerinnen-Trios mit gleicher Punktzahl in der Geradekür mit Musik und holte sich zudem Bronze am Sprung. Hier gewann Sarah Metz, und in der Spirale siegte Lilia Lessel.

Weltmeisterschafts-Bronze in der Spirale

Isabel Pietro von der Berliner Turnerschaft holte bei ihrer ersten und wohl auch letzten Weltmeisterschaft Bronze in der Spirale.

Das Rhönrad auf einem Reifen rollen zu lassen, wie eine rotierende Münze, ist ihre große Spezialität. Bei der Geradekür rollt das Rad auf beiden Reifen in gerader Bahn hin und her, beim Sprung dient es als Anschwung- und Absprunggerät, von wo aus es in kunstvollen Salti oder Schrauben auf eine Matte geht.

Ein glücklicher Zufall

Pietro ist seit 2005 dabei, ein "glücklicher Zufall" habe sie damals vom Gerätturnen zum Rhönradturnen gebracht:

Die Tochter ihrer Trainerin nahm sie mit in die andere Abteilung des Vereins. Und Pietros Liebe war schnell geweckt. Rhönradturnen sei wie Achterbahnfahren, sagt sie.

Und ich habe schnell Fortschritte gemacht, dadurch hatte ich daran mehr Spaß als am klassischen Turnen.

Deutschland - Ursprungsland des Rhönrades

Spaß allein reicht aber auch in dieser Nischensportart nicht, um es auf die internationale Bühne zu schaffen. Vor allem in Deutschland nicht, dem Ursprungsland des Rhönrades.

Erfunden hat es der 1890 geborene Pfälzer Otto Feick. Schon als Kind rollte er in zwei miteinander verbundenen Wagenrädern vor der Schmiede seines Großvaters einen Berg hinunter. Als Erwachsener, inzwischen Schlosser und Eisenbahner, baute er nach dem Ersten Weltkrieg in Ludwigshafen am Rhein ein erstes Rhönrad – das damals allerdings noch nicht so hieß. Nachdem er wie viele andere Eisenbahner von den französischen Besatzern aus der Pfalz ausgewiesen worden war, zog Feick in die Heimat seiner Frau nach Schönau an der Brend in der bayerischen Rhön. Er eröffnete eine Metallverarbeitungswerkstatt und meldete 1925 das "Reifen-, Turn- und Sportgerät" zum Patent an. Den Namen Rhönrad, nach dem Ort der Patentanmeldung, ließ er erst ein Jahr später schützen. Das erste internationale Rhönrad-Turnier organisierte Feick 1930 im Kurort Bad Kissingen.

WM-Startplätze hart umkämpft

In Deutschland sind die WM-Startplätze heute hart umkämpft. Für Isabel Pietro war es ein langer Weg an die deutsche Spitze. "Immer wieder hat es nicht für die WM gereicht", sagt sie. Entsprechend groß ist der Stolz, nun endlich eine Teilnahme und gleich auch noch eine Bronzemedaille auf dem Konto zu haben. Für Pietro ist das der richtige Moment, ihre aktive Karriere zu beenden, dem Körper Ruhe zu gönnen. "Was aber nicht heißt, dass ich vom Rhönradturnen Abstand nehmen werde", betont sie. Als Pressesprecherin im technischen Komitee des Deutschen Turner-Bundes und als Nachwuchs-Trainerin beim TSV Bayer 04 Leverkusen will die BWL-Studentin, die gerade an ihrer Master-Arbeit sitzt, sich weiter engagieren. 

Ihr Herz hängt an den zwei Stahlreifen. Und an der Community, die mit dem ungewöhnlichen Sportgerät umzugehen versteht. "Niemand verdient mit dem Rhönradturnen Geld", sagt Pietro, "alle machen das mit Herzblut." Entsprechend herzlich sei der Umgang miteinander. Nach zwei schweren Corona-Jahren, in denen große Teile der ohnehin kleinen Basis weggebrochen seien, gelte es nun, eine neue Generation aufzubauen. Und sicher auf ein Jubiläum zuzurollen:

In vier Jahren wird das Rhönrad 100 Jahre alt.

Das Rhönrad 

Es besteht aus zwei parallelen Stahlreifen, die durch sechs Sprossen miteinander verbunden sind. Davon sind zwei mit Brettern besetzt, an denen Lederschlaufen (Bindungen) befestigt werden. Durch diese Bindungen sind die Füße des Turners lose mit dem Rhönrad verbunden. Außerdem sind an zwei der Sprossen und an den Reifen Griffe befestigt. Der Durchmesser des Rades variiert je nach Körpergröße zwischen 130 und 245 Zentimetern. In Deutschland ist der Sport vor allem im Süden und Westen verbreitet, im Norden und Osten gibt es Aufholbedarf.

Weitere Informationen rund um das Rhönradturnen finden Sie auf der Website

Rhönradturnen

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AUTORIN   Susanne Rohlfing