Wilfried Theessen beim DTB-Festakt | Bildquelle: DTB
Historisches

DTJ: eine Erfolgsgeschichte im Wandel der Zeit

Wilfried Theessens kleiner Rückblick

Mit über zwei Millionen Mitgliedern ist die Deutsche Turnerjugend (DTJ) eine der größten Kinder- und Jugendorganisationen Deutschlands. Ihre Geschichte beginnt im Jahr 1921, mit einem gewissen Edmund Neuendorff. Der Lehrer wurde mit 29 Jahren im kaiserlichen Deutschland nicht nur Preußens jüngster Schuldirektor, 1921 wurde er vom Deutschen Turntag in Kassel durch den Hauptausschuss der Deutschen Turnerschaft auch zum ersten Jugendwart eingesetzt.

"Damals gab es so etwas wie Aufmärsche und Fahnenappelle. Was ja aus der damaligen Sicht der 20er Jahre sicher auch in Ordnung war", erzählt Theessen. Im Dritten Reich sei die Jugend der Turner wie in vielen anderen Bereichen gleichgeschaltet und eingenordet worden. "Daraus hat sich die Turnerjugend aber nach dem Krieg sehr schnell gelöst", betont er. Auch sei die Jugendarbeit in der deutschen Turnerjugend nach dem Zweiten Weltkrieg viel freizügiger geworden. "Früher gab es einheitliche Kleidung überall. Auch das hat sich gewandelt", erklärt er. Gründungsvater Neuendorff, später bis zum Leiter der Preußischen Hochschule für Leibesübungen (1925-1934) aufgestiegen, musste sein Amt - trotz politischer Sympathien - 1934 im Streit mit den Nationalsozialisten abgeben. 

Amtszeit während Zeit der Wende

Auch Theessen erlebte in seiner Amtszeit von 1986 bis 1994 eine besondere Phase der deutschen Geschichte: die Zeit der Wende. "Ich hatte damals das Glück, dass die Periode (1986 bis 1994), in der ich zunächt mit Margret Beck (1986 bis 1990) und dann mit Maren Schindeler-Grove (1990 bis 1992) Vorsitzender war (die letzten beiden Jahre alleine), auf die Wiedervereinigung fiel. Da war es natürlich unser Projekt, in allen Ostländern von Brandenburg über Thüringen bis Sachsen Jugendstrukturen aufzubauen. Also das wiederherzustellen, was wir im Westen immer hatten und was in DDR-Zeiten etwas verloren gegangen war. Das war eine ganz tolle Erfahrung", erinnert er sich. Heute ist der 70-jährige Theessen Sprecher des Freundeskreises der Jugendorganisation. "Vor zwei Jahren hätte die DTJ inmitten der Corona-Zeiten ein hundertjähriges Bestehen feiern können", erinnert er. Gefeiert wurde jedoch nicht. Umso mehr freute er sich, im April 2023 am Festakt des DTB in der Frankfurter Paulskirche zum 175-jährigen Bestehen des Verbandes teilnehmen zu können. Begleitet die Turnerjugend den Turner-Bund nun doch auch schon seit 100 Jahren.

Bei seinem Rückblick gibt sich Theessen dabei durchaus auch selbstkritisch. Ein paar Dinge habe man in der Euphorie von damals übersehen. "Man hätte vom Turnen in der DDR lernen können. Die guten Sachen hätten wir durchaus übernehmen können", findet er heute. Denn nicht alles, was man dort in 40 Jahren Turnen gemacht habe, sei schlecht gewesen. "Das hätte beiden Seiten aufgewertet, die DDR-Bürger und die Turner", glaubt er. Dürfte er noch einmal jung sein und an die Spitze der DTJ zurückkehren, würde er genau dies in den Fokus nehmen. Denn er habe da noch "Schwachpunkte in einigen Bundesländern" ausgemacht. "Ich würde das Jugendengagement als Projekt in allen Turnverbänden der neuen Länder noch einmal verstärkt durchführen“, sagt er.

Leuchtturmprojekt Kinderturn-Abzeichen

Selbst Vorsitzender eines Turnvereins im niedersächsischen Aurich, spürt Theessen auch heute noch die Nachhaltigkeit der eigenen Arbeit. "Ein ganz tolles Leuchtturmprojekt ist das deutsche Kinderturn-Abzeichen", sagt er. 

Das sei in den 80er und 90er Jahren entwickelt worden. "Da habe ich selbst gemerkt, Mensch, das kommt ja selbst bei mir im Turnverein an", sagt er. Kinderturnen sei ein besonders wichtiges Markenzeichen der Deutschen Turnerjugend, auch im fachlichen Sinne. "Weil wir natürlich wollen, dass die Kinder ganz früh anfangen sich zu bewegen. Und die Fachlehrschiene soll sich dann daraus auch möglichst entwickeln, so dass in den Turnvereinen Jugendorganisationen entstehen.

Es wäre wichtig, dass zum Beispiel jeder Turn- oder Sportverein einen Jugendrat hat, der auch im Vorstand mitsprechen kann und der auch möglichst von den Jugendlichen selbst gewählt wird. Das sind alles so Grundprinzipien der Turnerjugend", zählt er auf und ist sofort wieder mitten in seinem Element: "Dann kommen natürlich dazu bestimmte Gruppenwettbewerbe, Bewegungsprojekte sowie Turnerjugendgruppenwettstreite, die vor allem bei Turnfesten immer wieder angeboten werden. Auch das sind Grundlagen der Turnerjugendarbeit", fügt er hinzu.

Internationale Begegnungen und Videoschalten

Ein weiteres Projekt seien schon lange die internationalen Begegnungen, bei der die Turnerjugend aufruft zu bestimmten Jugendfreizeiten oder Begegnungen mit anderen Ländern wie Polen oder Japan zum Beispiel. Dann gab es einige neue Projekte wie die Videoschalte in der Corona-Zeit. "So wurden auch Jugendliche von der Turnerjugend angeregt, in diesen Zeiten Sport zu treiben und sich zu bewegen. Das sind für mich Dinge, die sehr gelungen sind", findet er.

Keine Nachwuchsprobleme

Das im Zeitalter der vielfältigen Ablenkungsmöglichkeiten der Turnerjugend die personelle Puste ausgeht, glaubt Theessen dagegen nicht. "Ich habe das Gefühl, dass auf Landes- und Bundesebene dieses Problem nicht besteht. Ich sehe, dass da immer junge Leute sind. Zumindest wurden immer wieder Nachwuchskräfte gefunden, die dann auch kandidiert haben und gewählt wurden, wenn andere Menschen ausgeschieden sind", berichtet er.

Wertschätzung Ehrenamt

Damit das auch so bleibt, hat Theessen ein sicheres Rezept für die Verantwortlichen. "Das Allerwichtigste ist für mich immer wieder die Wertschätzung. Jeder junge Mann und jede junge Frau muss merken, wenn er oder sie sich engagiert, dass das auch anerkannt wird", betont er. Die Wertschätzung sei ein ganz wichtiger Aspekt in jedem Ehrenamt. "Wenn ich Leute habe, die sich engagieren, sollten sie von außen oder von den Verantwortlichen immer wieder erfahren, dass das, was sie machen, sehr wertvoll ist. Einfach einmal Dankeschön sagen", empfiehlt er. 

Doch nicht nur das. Mit ein bisschen Organisationsgeschick ließen sich auch andere Parameter verbessern. Beispielsweise die Rahmenbedingungen anpassen, wenn junge Leute sich engagieren wollen, aber auch eine Familie hätten. "Ich weiß noch, zu meiner Amtszeit haben wir damals Kinderbetreuung eingeführt. Das ist heute selbstverständlich", sagt er. Wenn die Frage sei, ob Mütter oder Väter ihre kleinen Kinder mitbringen können und die parallel dazu betreut oder beaufsichtigt werden. "So kann man ein Amt auch für Leute attraktiv halten, die gerade eine Familie gegründet haben", hat er erkannt.

Ob sich der alte Neuendorff hätte vorstellen können, wie sich die Jugend im Turner-Bund einmal organisieren und entwickeln wird? Für Theessen nur schwer vorstellbar. Aber dass es die DTJ in 20 oder 30 Jahren noch immer geben wird, davon ist er zutiefst überzeugt. "Allein, weil es sie geben muss. Weil sie etwas Gutes ist und bis heute eine Erfolgsgeschichte geschrieben hat. Und ich denke, wenn junge Leute sich engagieren und immer wieder neue Aspekte reinbringen, dann wird es auch in 20 Jahren die Turnerjugend noch geben", sagt er.

AUSGABE  175 Jahre 02-2023 | Historisches | Wilfried Theessens kleiner Rückblick
AUTOR       Nils B. Bohl