Einzug in die Paulskirche | Bildquelle: Picture Alliance
Historisches

Nicht nur ein Trainingsort

Turn- und Sportvereine als Weltkulturerbe

In einer Meldung des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) vom März dieses Jahres hieß es:

Die Deutsche UNESCO-Kommission hat die ‚Gemeinwohlorientierte Sportvereinskultur‘ in das bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen.

Die feierliche Übergabe der Urkunde fand im Vorfeld der Mitgliederversammlung des DOSB am 18. November 2021 in Düsseldorf statt.

Dies war eine der wenigen positiven Nachrichten in letzter Zeit. Das Sportjahr 2021 war von wenigen positiven Schlagzeilen geprägt, unter anderem auch im Hinblick auf die Corona-bedingten Sportverbote. Ein Lichtblick sind jedoch die "gemeinwohlorientierten Sportvereine", die sich gerade in diesen schwierigen Zeiten als stabile Säulen des Sports in unserer Gesellschaft erwiesen haben.

Wenn man genauer hinschaut, dann waren es jedoch nicht nur die "Sportvereine", sondern die "Turn- und Sportvereine", die dafür gesorgt haben, dass - Corona zum Trotz - die Kinder wieder regelmäßig zum Kinderturnen gehen durften, die Frauengymnastik wieder stattfinden konnte, die Seniorengymnastik auch im Freien und am Wochenende oder am Bildschirm per Zoom, Streaming und Podcasts usw. durchgeführt wurde, dass man sich wieder zum Walking traf und in Verbindung blieb.

Die Turn- und Sportvereine haben nicht nur diese Krise gemeistert, sondern bilden seit fast 200 Jahren eine Grundlage des sozialen und gesellschaftlichen Lebens in Deutschland, der Integration und des Zusammenhalts der Menschen in den Städten und Gemeinden, und nicht zuletzt der Solidarität und des ehrenamtlichen Engagements.

Turnvereine seit den 1840er Jahren

Es waren die seit den 1840er Jahren entstandenen Turnvereine in Deutschland, die diese "immaterielle" Kultur der Pflege der Leibesübungen, der Spiele und des Sports im "Verein", also gemeinsam und vereint in einer Gruppe von freien und engagierten Bürgern, begründet haben.

Die freiheitlich und demokratisch gesinnten Turner haben damals ihren Vereinen Satzungen gegeben, in denen sie sich verpflichteten, füreinander und für eine demokratische Gesellschaft einzustehen, sich um die körperliche Bildung und Erziehung der Jugend zu kümmern und einen positiven Beitrag zur Entwicklung der Körperkultur in Deutschland zu leisten.

Die berühmte Abbildung – ein Holzstich von Jean Ventadour (1822-1880) – vom Einzug der gewählten Abgeordneten des Vorparlaments zur Frankfurter Nationalversammlung in die Paulskirche gibt Zeugnis von dieser Zeit und dem Engagement der Turner und Turnvereine für ein freies und vereintes, demokratisches Deutschland:

Die Turner mit ihrer einheitlichen Turntracht und den großen Turnerhüten stehen Spalier für die Honoratioren, die über die erste freie und demokratische Verfassung in Deutschland beraten haben.

Einzug in die Paulskirche

Das 19. Jahrhundert war ein "vereinsseliges Säkulum", wie sich der Historiker Dieter Langewiesche ausdrückte.

Das Spektrum von Vereinen, die als ihren ersten Vereinszweck die Pflege von Leibesübungen nannten, erweiterte sich erheblich:

Zu den Turnvereinen gesellten sich Spiel- und Sportvereine sowie Vereine aus unterschiedlichen sozialen und weltanschaulich-religiösen Milieus, seien es Arbeiter-Turn- und Sportvereine, christliche und jüdische Vereine, und nicht zuletzt auch Clubs und Vereine, in denen die Menschen, zunehmend auch Frauen und Kinder, einfach nur ihre Freizeit mit und bei Bewegung, Spiel und Sport verbringen wollten. Vereine und Abteilungen trennten sich oder schlossen sich zusammen, und sie organisierten sich in Dachverbänden auf regionaler und nationaler Ebene.

Die heute nicht mehr auf den ersten Blick zu verstehenden Abkürzungen von Vereinsnamen zeugen von der Vielfalt und Dynamik der Turn- und Sportvereinsbewegung. Wenn sich Turner und Sportler in einem Verein zusammenschlossen, nannten sie sich "Turn- und Sportverein", abgekürzt TuS, andere VfL – Vereine für Leibesübungen, wieder andere Turn- und Spielvereine, Freizeitvereine, oder wie die katholischen Turn- und Sportvereine, die ihre Namen "DJK" beibehielten – für Deutsche Jugendkraft, die Sport- und Jugendbewegung in der Katholischen Kirche. Beim Turnen standen die "volkstümlichen Leibesübungen", wie sie Jahn genannt hatte, im Vordergrund, und zwar "für alle", beim Sport dagegen eher die Freizeitvergnügungen und Wettkämpfe in speziellen "sports". In einem TuS war also beides möglich: Turnen, Spiel und Sport für alle und spezielle Wettkämpfe, Turniere und sportliche Leistungen von solchen, die genügend Zeit und Geld hatten, um sich diesen Sport leisten zu können.

Die Turn- und Sportvereine blieben jedoch nicht immer ihren demokratischen und freiheitlichen Anfängen treu.

Dass viele von ihnen bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 nicht nur Opfer waren, sondern mit dazu beigetragen haben, den tiefen Fall der Deutschen in die Barbarei zu ermöglichen, darf nicht verschwiegen werden. Wenn heute die "Gemeinwohlorientierte Sportvereinskultur" als immaterielles Kulturerbe ausgezeichnet wird, darf die Geschichte der jüdischen Turnerinnen und Turner, Sportlerinnen und Sportler, die von einem Tag auf den anderen aus der Gemeinschaft der Vereine ausgeschlossen wurden, weder vergessen noch aus der Erinnerungskultur der Turn- und Sportbewegung in Deutschland verdrängt werden.

Nach der Niederlage von Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg haben die Turn- und Sportvereine einen Neuanfang versucht und sich auf ihre demokratischen und republikanischen Traditionen besonnen. Die Besatzungsmächte halfen mit, den demokratischen Erneuerungsprozess der Turn- und Sportvereinsbewegung zu unterstützen. In einigen Besatzungszonen kam es zum Zusammenschluss ehemaliger Traditionsvereine, also zur Neu- und Wiedergründung von Turn- und Sportvereinen – TuS. Als sich 1950 in Hannover der neue Dachverband des deutschen Sports gründete, wurde jedoch der Begriff Turnen nicht im Namen des DSB genannt, obwohl die meisten Turn- und Sportvereine aus der Turnbewegung hervorgegangen waren. Der Begriff Sport löste das Turnen als Leitmotiv der Turn- und Sportvereinsbewegung ab. 

Flagge des Deutschen Turn- und Sportverbandes der DDR (DTSB), gegründet 1957.

Diese Hinwendung zum westlichen Modell des Sports in der Namensgebung des Dachverbandes der Vereine und Verbände von Turnen und Sport in der Bundesrepublik Deutschland erfolgte jedoch nicht in der DDR, dem anderen, zweiten deutschen Staat. Dort wurde „Turnen“ im Namen des Dachverbandes genannt: Der Deutsche Turn- und Sportverband der DDR (DTSB) wurde 1957 gegründet – allerdings nicht mehr auf der Grundlage freier, autonomer und bürgerschaftlich organisierter Vereine, sondern als Dachverband von Turn- und Sportgemeinschaften unter Aufsicht und Kontrolle von Staat und Partei.

Die wechselvolle Geschichte des Turn- und Sportvereinswesens mag heute nicht mehr jedem und jeder Sporttreibenden bewusst sein. Für die meisten Menschen ist es selbstverständlich geworden, ihrem Sport- und Freizeitinteresse in einem Turn- und Sportverein nachzugehen und dort auch über Ziele und Inhalte des Vereinslebens mitbestimmen zu können. Zu dieser Freiheit gehört jedoch auch die Verpflichtung, das Turn- und Sportvereinswesen im Sinne und zum Wohle einer freien, offenen und demokratischen Bürgergesellschaft mit Leben zu füllen. Dafür ist letztlich die "gemeinwohlorientierte" Turn- und Sportvereinskultur als "immaterielles Kulturerbe" ausgezeichnet worden.

AUSGABE  Training 03-2021 | Historisches | UNESCO Weltkulturerbe Sportverein 
AUTOR       Prof. Dr. Michael Krüger