Sociedade Ginástica Tres Barras, Rio Bonito, Santa Catarina, gegründet am 15. 10. 1910, zum 50jährigen Jubiläum 1960. | Bildquelle: Archiv SC Tres Barras.
Historisches

Argentinien, Brasilien, Chile

Turnen unterm Kreuz des Südens

Einwanderung und Kulturtransfer. Die Geschichte der Leibesübungen in den drei Südstaaten Südamerikas, Argentinien, Brasilien und Chile, steht in enger Wechselbeziehung zur Geschichte der Einwanderung aus allen Teilen der Welt in die ehemals spanischen Besitzungen und das Kaiserreich Brasilien. Zum "kulturellen Gepäck" der Migrantinnen und Migranten gehörten neben Sprache, Religion, Sitten, Brauchtum, Bildung und handwerklichen Fertigkeiten, ihr Körperbild und die Formen des Freizeitverhaltens, so auch Turnen, Spiel und Sport. Brasilien wird hier im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen.

In der Kolonie Dona Francisca, dem heutigen Joinville im Bundesstaat Santa Catarina, haben sächsische Auswanderer, davon ehemalige "1848er", im Jahre 1858 den ersten Deutschen Turnverein Brasiliens gegründet. Ein Jahr danach erfolgte in der damaligen Hauptstadt Rio de Janeiro eine weitere Turnvereinsgründung, eine Initiative von Angestellten der dortigen Handelshäuser. Wenige Jahre später, 1864, wird aus Porto Alegre im Staat Rio Grande do Sul von einem Turnverein berichtet, bei dem auch ehemalige "48er" beteiligt waren. Und selbst im Urwald von Espírito Santo hatte 1876 die spezifisch "deutsche" Form der Körperkultur Wurzeln geschlagen, ehe es Jahrzehnte später zur Gründung von Sportvereinen unter Beteiligung deutscher Einwanderer kam.

Gauverbände

in Rio Grande do Sul und Santa Catarina

Ihre stärkste Ausprägung erhielt die Turnbewegung in Rio Grande do Sul, der südlichsten Provinz mit den größten Einwanderungskontingenten; mit zeitlicher Verzögerung folgte Santa Catarina. In beiden Staaten kam es zur Bildung von Gauverbänden.

In den anderen Staaten wie Paraná, São Paulo, Minas Gerais, Rio de Janeiro und Espírito Santo blieb das Turnen auf einzelne meist städtische Vereine beschränkt.

Deutscher Turnverein, Turn-Club und Turnerbund in Porto Alegre

Der Deutsche Turnverein zu Porto Alegre, dessen offizielles Gründungsdatum auf 1867 gelegt wurde, ist nicht nur die Keimzelle des Turnens, sondern war und blieb über Jahrzehnte die treibende Kraft für die gesamte Turnbewegung, sowie in Teilen des Sports der Provinz (später des Bundesstaates) Rio Grande do Sul und darüber hinaus. Nach einem kurzzeitigen Zusammenschluss mit dem Deutschen Schützenverein fusionierte er mit einem 1887 gegründeten Turn-Club zum Deutschen Turnerbund Porto Alegre.

An der Entwicklung dieses Vereins und an den von ihm ausgehenden Aktivitäten lässt sich idealtypisch die Verbreitung des Turnens (und Sports) in Südbrasilien nachvollziehen.

Zwei Personen waren über Jahrzehnte die treibenden Kräfte, sowohl des Vereins als auch der Deutschen Turnerschaft von Rio Grande do Sul, dem Zusammenschluss der bis 1895 entstandenen Turnvereine der umliegenden Landstädte: Jacob Aloys Friederichs, ein aus Merl an der Mosel stammender gebürtiger Preuße und mit der Einführung der Republik 1888 naturalisiert. Er war der eigentliche Propagandist und Organisator des "Deutschtums". Der aus München stammende und erst 1902 eingewanderte Kolonist mit Turnlehrerpatent Georg Black wirkte in erster Linie als Praktiker und zeitweise als Herausgeber der Deutschen Turnblätter, dem Mitteilungsblatt des Turnerbundes und gleichzeitig Zentralorgan der Turnerschaft von Rio Grande do Sul.

Zur Praxis der Turnvereine

Die Turnpraxis orientierte sich an mitgebrachten Mustern, wobei allerdings das Jahn´sche Turnen durch seine Fortentwicklung sowie andere Turn- und Gymnastiksysteme eine bedeutende Modifikation erfuhr. Dies lässt sich über den Gerätepark und die Lehrbücher nachvollziehen. Wurden die Geräte, in Anlehnung an den Jahn´schen Turnplatz anfänglich noch selbst gefertigt und auf Plätzen fest verbaut, konnten mit zunehmendem Wohlstand und dem Bau von eigenen Hallen, Geräte aus Deutschland importiert werden.

Der Turner-Bund Porto Alegre, zum Beispiel, bezog zur Einweihung seiner neuen Turnhalle 1896 die gesamte Ausstattung von der Firma Fechner in Leipzig. Dazu gehörten neben der üblichen Ausstattung einer Turnhalle auch Schleuder- und Fußbälle. Aus dem gleichen Jahr ist das Inventarverzeichnis des Turnvereins Blumenau, Santa Catarina, überliefert, das der Standardausrüstung einer deutschen Turnhalle entsprach.

Über die an die Deutsche Turn-Zeitung und die Jahrbücher der Turnkunst eingesandten Berichte ist die Entwicklung des Turnens in Brasilien relativ gut dokumentierbar. Jeder Verein verfügte üblicherweise über einen Grundbestand an Büchern, Grundlagenwerken der Turngeschichte und methodischen Anleitungen aus der alten Heimat. Aus ihnen wird deutlich, dass sich das Turnen um 1900 vom heutigen Kunstturnen unterschied. Massenfreiübungen mit Stäben oder Hanteln, "Marmorgruppen" mit bengalischer Beleuchtung, menschliche Pyramiden mit oder ohne Geräte sind heute weitgehend in Vergessenheit geraten.

Über importierte Schriften erhielt das Deutsche Turnen in Brasilien immer wieder Anregungen zur Turnpraxis und Hinweise auf Neuerungen, wie beispielsweise die stärkere Hinwendung zur Leichtathletik (im Sprachgebrauch der Zeit: "volkstümliche Übungen") oder die Aufnahme diverser Ballspiele an der Wende zum 20. Jahrhundert.

Belegt sind Reisen zu Deutschen Turnfesten mindestens seit Hamburg 1898 (aus Curitiba) auf denen Kontakte zur Leitung der Deutschen Turnerschaft und anderen Auslandsvereinen geknüpft wurden. Die Turnfestfahrer brachten Anregungen nach Brasilien.

Bild: Goetz- Denkmal in Porto Alegre zu Ehren des 1915 verstorbenen Vorsitzenden der Deutschen Turnerschaft. 

Bereits die erste Fahne des Turnvereins Joinville wurde "aus dem Hietel´schen Geschäfte in Leipzig" bezogen und beim 8. Stiftungsfest am 18. November 1866 erstmals öffentlich präsentiert.

Die Fahne des Deutschen Turner-Bundes Porto Alegre wurde von der Bonner Fahnenfabrik hergestellt und mit Taufpaten des Turnvereins Idar (heute Idar-Oberstein, Rheinland-Pfalz) auf dem Deutschen Turnfest in Nürnberg 1903 geweiht. J. Aloys Friederichs hat dort den Vorsitzenden der Deutschen Turnerschaft, Dr. Ferdinand Goetz, kennengelernt, mit dem er zeitlebens freundschaftlich verbunden war. Goetz ist der einzige deutsche Turnerführer, dem in Brasilien die Ehre eines Denkmals zuteilwurde.

Vom Besuch des Deutschen Turnfestes in Leipzig 1913 mit anschließendem Aufenthalt in seiner Heimatstadt München brachte Georg Black die Anregung für die Gründung einer Pfadfindergruppe mit. Georg Black gilt als der Gründer der brasilianischen Pfadfinderbewegung.

Turnvereine an der Wiege des Fußballs in Brasilien

Die Offenheit der Turnvereine für die neu aufkommenden "sports" lässt sich nicht nur an den Gründungsinitiativen und den Mehrfachmitgliedschaften, z. B. bei Ruder- und Radfahrervereinen, belegen. Turner standen an der Wiege des Fußballs in Porto Alegre, als 1903 zum ersten Mal Fußballer aus Rio Grande zu einem Demonstrationsspiel anreisten. "Dem Turnerbunde fiel hierbei die dankbare Aufgabe zu, bei einem in seiner Halle stattgefundenen Fest-Commerse den vereinigten Sportsmen und zahlreichen Festgästen ein wirkungsvolles Schauturnen vor Augen zu führen, bei dem unsere Turner und durch diese auch unser Verein äußerst ehrenvoll bestanden. Dem ´Sport-Club Rio Grande` und dem durch diesen Besuch zur Gründung veranlassten `Fußball-Club Porto Alegre´ - im Anschluss an den Radfahrerverein `Blitz´ - und `Grêmio Football Porto Alegrense´ wünschen wir eine frohe und gedeihliche Entwicklung."  [Jahresbericht des Turner-Bundes Porto Alegre über das Jahr 1903]

Die beiden genannten portoalegrenser Vereine wurden genau eine Woche nach dieser sportlichen Begegnung am selben Tag durch Deutsche gegründet, dem 15. September 1903.

Das neu eingeführte Fußballspiel schlug auch im Turner-Bund Wurzeln. Wenn auch das Turnen neuerdings etwas "unmodern" geworden sei, meinte Turnerschaftsvorsitzender Friederichs, wolle man den befreundeten Sportvereinen ihren Erfolg nicht neiden, sondern auch in Zukunft einträchtig an dem gemeinsamen Ziel arbeiten: "Die große Masse derer, welche keine Leibesübungen treiben, zu irgend einer, erhöhtere Lebensfreude bringenden Körperbewegung zu veranlassen. Ob nun diese Bewegung Turnen oder Sport heißt, sollte uns nicht in Gegensätze bringen." [Jahres-Bericht des Turner-Bundes Porto Alegre für 1905 (1906), S. 4 f.]
Seit 1910 bemühte sich der Turner-Bund um den Erwerb eines größeren Platzes, da der bei der Turnhalle im Zentrum gelegene Freiplatz für Spiele zu klein geworden war. Das damals weit von der Stadtmitte gelegene Gelände im Vorort São João beherbergt noch heute den Nachfolgeverein Sociedade de Ginástica Porto Alegre (Sogipa).

Offiziell eingeweiht wurde er, in Erinnerung an die Einrichtung des Jahn´schen Turnplatzes in der Berliner Hasenheide zum 100-jährigen Jubiläum, am 21. Mai 1911. Neu gewählte "Spielwarte" sollten allerhand "Turnspiele" und "volkstümliche Übungen" (= Leichtathletik) fördern. Darüber hinaus sollte der Platz ein sonntägliches Ausflugsziel für die ganze Familie und Begegnungsstätte über soziale Stände hinweg werden.

Unter Beteiligung von Turnlehrer Black, der zuvor bei Grêmio Foot-Ball Porto Alegre gespielt hatte, bildete sich 1909 die Fußballmannschaft "Frisch Auf" Porto Alegre als Abteilung des Turnerbundes. Aus Blumenau in Santa Catarina ist 1910 die Existenz einer Fußballabteilung des Turnvereins überliefert.

"Die Räuber" von Friedrich von Schiller, aufgeführt auf den Bühne des Turnerbundes Porto Alegre, 1905. Bildpostkarte: Porto Alegre 1905, Archiv Sogipa

Turn- und Sportvereine als Kulturvereine

Turnvereine haben stets neben den turnerisch-sportlichen Veranstaltungen Wert auf Geselligkeit für die ganze Familie gelegt. Wichtig waren ihnen Erhalt und die Pflege der deutschen Sprache und Kultur, z. B. durch "Sängerriegen", Orchester, Aufbau von Bibliotheken oder Theatergruppen. Die Turnhallen verfügten meist über Bühneneinrichtungen.

 J. Aloys Friederichs hat zum Turnfest 1906 einen Wettbewerb für ein Lied zum "Preise Brasiliens" ausschreiben lassen, aus dem das "Lied der Deutschbrasilianer" hervorging. 1922 ließ er eine "Sammlung deutscher Lieder" zusammenstellen, durch die er sowohl das "deutsche Volkstum" zu stärken wie auch die Liebe zum "neuen Vaterland Brasilien" zu wecken hoffte.

Turnen und Sport auf hohem Niveau

Deutsche Turnvereine haben als Mehrspartenvereine in den 1920er und 1930er Jahren erfolgreich vermocht, auf nationaler und internationaler Ebene turnerische und sportliche Erfolge zu erzielen, nicht zuletzt dank der Verpflichtung von Turnlehrern aus Deutschland, wie von Estrela und Santa Cruz do Sul überliefert, oder durch die Ausbildung von Nachwuchsturnern an der Deutschen Turnschule oder der Reichsakademie für Leibesübungen, wie die Kinder von Turnlehrer Black.

Infolge der Vielzahl von Vereinen strukturierten sich in Santa Catarina und Rio Grande do Sul die Landesverbände nach deutschem Vorbild in verschiedene Gaue, in denen Gauturnfeste abgehalten wurden. Alle zwei bis vier Jahre traf man sich zu Landesturnfesten. Turner aus Argentinien, Chile und Brasilien haben regelmäßig an Deutschen Turnfesten teilgenommen.

Nationalisierung, Einschränkungen, Verbote

Der Druck nationalsozialistischer Ortsgruppen auf die Vereine, sich reichsdeutschen Organisationen zu unterstellen, führte zu heftigen Diskussionen, mit der Folge der Spaltung in Vereinen und Verbänden. Die strikte Ablehnung in den Turnvereinen, sich in eine nationalsozialistische Untergliederung einordnen zu lassen, war nicht zuletzt das Verdienst von J. Aloys Friederichs. Trotzdem standen besonders die Turnvereine im Verdacht, die "Fünfte Kolonne der Nazis" zu sein.

Der Zweite Weltkrieg bedeutete für viele Menschen, nicht nur in den Turn- und Sportvereinen, einen empfindlichen Einschnitt, der sich bereits in der "Kampagne der Nationalisierung" ab 1937 mit der Einführung des Portugiesischen als offizieller Vereinssprache abzeichnete. Viele Vereine wurden geschlossen. In Brusque wurde die Turnhalle von der Polizei versiegelt. In Curitiba rückte Militär aus und besetzte das Vereinsgelände des Teuto-Brasilianischen Turnvereins. Ähnliches wird vom Schützenverein Blumenau berichtet, wo sich Militär ins Schützenhaus einquartierte. Die Bibliothek des Turnvereins in Ponta Grossa, PR, wurde von Militärs verfeuert. In Joinville wurden Grabplatten mit deutschen Inschriften zerschlagen. Manche älteren Leute verließen aus Angst jahrelang nicht mehr ihre Häuser, da sie der portugiesischen Sprache nicht mächtig waren. Anfeindungen und Denunziationen waren an der Tagesordnung. Einige Vorstände kamen der Beschlagnahmung zuvor und verbrannten oder vergruben Akten, die verrotteten. Viele Vereine verloren dadurch ihr "kulturelles Gedächtnis". Mancher schloss für immer seine Türen.

Doch nicht alle Vereine waren gleichermaßen betroffen. Ihre Behandlung hing stark von örtlichen Gegebenheiten ab.

Dem Turnerbund Porto Alegre, jetzt unter dem Namen Sociedade de Ginástica, gelang es durch seine guten Verbindungen zur Staatsregierung relativ unbehelligt durch diese Krise zu kommen. Er beteiligte sich regelmäßig an den "semanas da pátria" (alljährliche "vaterländische Wochen"), glänzte 1941 mit turnerischen Vorführungen bei den Feierlichkeiten zum 200. Gründungstag der Stadt und konnte 1942 mit großen öffentlichen Auftritten sein 75-jähriges Jubiläum begehen.

Unter anderen Namen, aber das Turnen lebt.

Clube Duque de Caxias, Esporte Clube Rio Branco, Clube de Regatas Guaíba, Clube União, Clube 15 de Novembro, wer würde hinter diesen Namen Vereine deutscher Einwanderer vermuten? Eher schon bei den Sociedades de Ginástica. Diese erfuhren in vielen Fällen eine Wiederbelebung und konnten auf sportlichem Gebiet an Vorkriegsaktivitäten anknüpfen. Das Deutsche ist als offizielle Vereinssprache zwar verschwunden, wurde und wird jedoch in Untergruppen weiter gepflegt, sei es über Gesprächskreise, durch Chöre oder Volkstanzgruppen. "Deutsche Kultur" ist vielfach auf folkloristische Elemente reduziert. Die frühere "Ikone" Friedrich Ludwig Jahn ist weitgehend in Vergessenheit geraten, der Zweite Weltkrieg hat viele alte Verbindungen zerrissen, doch einige Vereine haben überlebt. Ehemalige "deutsche" Turnvereine haben sich in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg vielfach zu mitgliederstarken und kapitalkräftigen Klubs entwickelt, die das sportliche und gesellschaftliche Leben ihrer Städte mitgestalten und in vielen Sportarten, z. B. dem "deutschen Import", Handebol und Punhobol (Faustball) aber auch beim Kunstturnen auf allerhöchstem Niveau mitkämpfen. Bei manchen Vereinen ist man sich des "deutschen Erbes" noch bewusst oder sucht nach Anknüpfungen, bei anderen erinnern allenfalls noch einige Sätze zur Historie in den Internetauftritten an ihre deutsche Vergangenheit.

Zur Person Dr. Lothar Wieser

Dr. Lothar Wieser ist Gymnasiallehrer i. R. mit den Fächern Gemeinschaftskunde und Sport. Das Thema seiner Dissertation in Göttingen behandelte die Geschichte der deutschen Auswanderung und die Entwicklung des Deutschen Turnens in Brasilien.

Zahlreiche Veröffentlichungen zur Sozialgeschichte von Turnen und Sport hatten die  Schwerpunkte Turnen im Vormärz, Revolution von 1848/49 und Emigration, die Symbolik der Turnbewegung, Turnerfeuerwehren, Turnen und Sport in Mannheim, Pfadfinder in Brasilien, Turnen und Sport in Südamerika, Auswanderung von Baden nach Brasilien.

Er ist Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Baden-Württembergischen Instituts für Sportgeschichte, Maulbronn.

www.ifsg-bw.de
 

AUSGABE  International 03-2023 | Historisches | Turnen unterm Kreuz des Südens
AUTOR       Dr. Lothar Wieser