DDR-Riege bei den XX. Olympischen Sommerspiele von München | Bildquelle: Picture Alliance
Historisches

50 Jahre Olympische Spiele München und das Kunstturnen

Turnen bei den Olympischen Spielen München 1972

Die Erinnerung an die XX. Olympischen Sommerspiele von München vor 50 Jahren ist von zwei Ereignissen geprägt: Erstens das Attentat vom 5. September, bei dem palästinensische Terroristen das Olympische Dorf überfielen, elf israelische Athleten als Geiseln nahmen und sie schließlich ermordeten. Zweitens die Tatsache, dass erstmals bei Olympischen Spielen eine Mannschaft aus der DDR mit eigener Hymne und Fahne in ein Olympiastadion einmarschierte. 

Meilenstein in der Entwicklung des modernen Kunstturnens

Aus der Sicht des Turnens stellten die Olympischen Spiele von München einen Meilenstein in der Entwicklung zum modernen Kunstturnen dar. Während die ersten Spiele in Deutschland, die Feiern zur XI. Olympiade 1936 in Berlin, noch ganz vom deutschen und europäischen Modell des Turnens geprägt waren, zeigten die Turnwettbewerbe von München, dass das Kunstturnen eine hoch komplexe, moderne, akrobatische und artistische Sportart mit internationaler Verbreitung geworden war. Allerdings hatte Berlin 1936 bereits den Weg dorthin gewiesen: Die Turnwettbewerbe fanden noch im Freien statt, auf der heutigen Waldbühne auf dem Gelände des Reichssportfeldes. Aber es gab bereits Turnwettkämpfe an den bis heute üblichen Turngeräten.

Das Kunstturnen der Frauen feierte in Berlin Premiere. Bei den Männern dominierte die "Deutschlandriege" um Alfred Schwarzmann (1912-2000), der sich nach dem Krieg wieder ans Reck hängte und 1952 in Helsinki, als wieder eine deutsche Mannschaft an Olympischen Spielen teilnehmen durfte, die Silbermedaille an diesem Gerät erturnte.

Die Turnwettbewerbe bei der XI. Olympiade 1936 in Berlin fanden noch im Freien statt, auf der heutigen Waldbühne auf dem Gelände des Reichssportfeldes.

Das Kunstturnen der Frauen feierte in Berlin Premiere bei der XI. Olympiade 1936. 

Springboden, Turnpferd und Reutherbrett

In München 1972 dominierten dagegen die Kunstturner aus der Sowjetunion und Japan und bei den Turnerinnen die aus der Sowjetunion und der DDR. Die Wettkämpfe fanden in der modern ausgestatten Olympiahalle auf dem Münchener Olympiagelände statt. Der Autor dieser Zeilen hatte als Jugendturner die Gelegenheit, an den nagelneuen Spieth-Geräten bei einem Testwettkampf im Vorfeld der Spiele unter olympischen Bedingungen zu turnen.

Allerdings war der damalige Schwingboden natürlich was ganz anderes als die Tumblingböden von heute. Der Sprung erfolgte noch über ein Turnpferd und nicht über einen Sprungtisch, das Reutherbrett war noch fast das alte, mit dem schon Helmut Bantz 1956 mit dem Hecht die Goldmedaille gewonnen hatte und die Frauen (und Mädchen) turnten noch am Stufenbarren, obwohl er schon "verspannt" war wie heute ein "Doppelreck".

Für mich als Jugendturner blieb der Auftritt der japanischen Turnmannschaft der Männer mit den legendären Stars wie Sawao Kato, Eizo Kenmotsu, Akinori Nakayama und Mitsuo Tsukahara unvergessen. Sie dominierten die Wettbewerbe, gefolgt von den Turnern aus der Sowjetunion um Nikolai Adrianov und Victor Klimenko.

Bei den Frauen beherrschten die Athletinnen aus der Sowjetunion mit Ludmilla Turischtschewa und der noch sehr kindlich wirkenden Olga Korbut die Szene. Die Kunstturnerinnen um Karin Janz und Erika Zuchold aus der DDR schafften sensationell die Silbermedaille, während die Kunstturnerinnen aus der Bundesrepublik um Uta Schorn und Angelika Kern ebenso abgeschlagen auf dem 8. Platz landeten wie die Männer um Eberhard Gienger und Walter Mössinger auf dem 5. Platz in der Mannschaftswertung. Die Männerriege aus der DDR um Klaus Köste und Wolfgang Thüne gewann dagegen die Bronzemedaille.

Klaus Köste gewann mit der Männerriege aus der DDR die Bronzemedaille.

Kunstturnerin Olga Korbut bei ihrer Balken-Kür

Eberhard Gienger auf dem 5. Platz in der Mannschaftswertung

Die Erfolge der Athletinnen und Athleten des Ostblocks waren das Ergebnis harter Trainingsarbeit, wissenschaftlicher Analysen der Bewegungen des Turnens und systematischer staatlicher Förderung. Ähnliches galt auch für das Kunstturnen in Japan, wo diese Sportart besondere Unterstützung und Förderung durch staatliche und private Hochschulen erfuhr.

Die Leistungen und Erfolge der japanischen und sowjetischen Turner lassen sich auch darauf zurückführen, dass Trainer und Sportwissenschaftler die turnerischen Bewegungen und Übungen bis ins kleinste Detail analysierten und neue, innovative Wege für das kunstturnerische Training gingen.

Viele japanische Turner, Trainer und Pädagogen haben zu diesem Erfolg beigetragen. Professor Akitomo Kaneko repräsentiert diese kollektive Leistung als herausragender Turner, Trainer, Lehrer und Professor an der Tsukuba-Universität Tokio, Heimat zahlreicher japanischer Sportwissenschaftler*innen, wo auch Sawao Kato, der mehrfache Olympiasieger von München, später Professor für Sportwissenschaften wurde. Kato, der überragende Turner von München, rauchte übrigens nach jedem Gerät eine Zigarette, was heute unvorstellbar wäre. 

Die Japaner pflegten einen neuen Stil des modernen Kunstturnens. Sie verbanden ästhetische und künstlerische Virtuosität der Bewegung mit Kraft, Eleganz und Dynamik. In einem weiteren Kontext verbanden sie europäische Gymnastik mit japanischer Ästhetik, dem "Geist des Übens" und der Askese (mit Ausnahme von Katos Zigarette). Wie Joseph Göhler (1911-2001), Ehrenmitglied des Deutschen Turner-Bundes, in seinem Buch Japanische Turnkunst schrieb, verwirklichten die japanischen Turner mit ihrer Turnkunst den "olympischen Geist".

Das Sportwunder DDR

Am Beispiel Turnen lässt sich zeigen, dass die Olympischen Spiele von München die Entwicklung des Sports und der Sportwissenschaft erheblich beschleunigten. Für den Sport in beiden deutschen Staaten bedeutete die Vergabe der Spiele nach München einen Aufbruch. Die Politik in der DDR setzte alles daran, den Klassenfeind im eigenen Land zu besiegen. Das Politbüro unternahm große Anstrengungen und stellte viel Geld bereit, um dieses Ziel zu erreichen. Die Förderung des olympischen Leistungssports erhielt höchste Priorität.

Diese umfasste die Entwicklung und Umsetzung eines weltweit bewunderten Fördersystem für den spitzensportlichen Nachwuchs. Man baute Sportstätten exklusiv für wenige ausgewählte Top-Athletinnen und -Athleten und bildete Tausende von Trainerinnen und Trainern aus. Die Wissenschaft auf dem Gebiet des Sports wurde besonders gefördert. Die Deutsche Hochschule für Körperkultur in Leipzig – eine Nachfolgeeinrichtung der Berliner Hochschule für Leibesübungen aus dem Jahr 1920 – entwickelte sich zur Herzkammer der DDR-Sportwissenschaften. Forschung und wissenschaftlich unterstütztes Training schienen die Antwort auf die Frage nach den Geheimnissen des "Sportwunders DDR" zu sein. 
 

Kontrapunkt zu Berlin 1936

Über München und Bayern hinaus bedeuteten die Spiele eine große Chance für Politik, Kultur und Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Die Spiele von München sollten einen Kontrapunkt zu denen von Berlin 1936 setzen, die die internationale Öffentlichkeit zunehmend als Nazi-Spiele bezeichnete. Die Spiele von München sollten "Anti-German German Olympics" werden, wie sich der amerikanische Kulturhistoriker Richard Mandell ausdrückte:

  • modern und zukunftsgewandt,
  • bunt statt braun,
  • statt Aufmärschen eine Spielstraße,
  • statt Polizei und Militär zivile Polizei in Trainingsanzügen.

Die Sicherheit stand hinten an. Spiel und Spaß waren angesagt. Niemand konnte oder wollte zur Kenntnis nehmen, dass ausgerechnet dieses Konzept der "heiteren Spiele" ein Einfallstor für den Terror bieten sollte.

Erstmalig wissenschaftlicher Kongress

Für den Sport in der Bundesrepublik bedeutete die entschiedene Hinwendung nach Westen einen Paradigmenwechsel, der sich zunächst im Wandel der Begriffe äußerte. Aus dem "deutschen Turnen", den "deutschen Leibesübungen" und der "Leibeserziehung" wurde der Sport. Erstmals in der Geschichte der Olympischen Spiele fand ein vom Internationalen Olympischen Komitee veranstalteter wissenschaftlicher Kongress statt, zu dem Fachleute aus aller Welt angereist kamen. Der imposante Kongressband wurde 1973 unter dem Titel Sport in der modernen Welt auf Deutsch und Englisch veröffentlicht. Kongressleitung und Herausgeberschaft lagen bei Ommo Grupe, den man als Nestor der Sportwissenschaft in Deutschland bezeichnet.

Grupe wurde 1957 in Münster bei Alfred Petzelt in Pädagogik zum Thema Leibesübung und Erziehung promoviert. In dieser Zeit war er von 1954 bis 1958 hauptamtlicher Sekretär im neu geschaffenen Bundesjugendsekretariat des Deutschen Turner-Bundes.

Die Universität Tübingen berief Grupe 1960 zum Direktor des Instituts für Leibesübungen und 1968 zum ersten ordentlichen Professor für "Theorie der Leibeserziehung" in der Bundesrepublik Deutschland. Er prägte die Sportwissenschaft weit über die Grenzen Deutschlands hinaus.

Institute für Sport und Sportwissenschaft(en)

Der Kongress gilt als "Take-off" der Sportwissenschaft in Deutschland. In seinem Umfeld benannte man die Institute für Leibesübungen an den Universitäten, die vorwiegend in der akademischen Lehrerbildung für das Fach Turnen und Leibeserziehung tätig waren, in Institute für Sport und Sportwissenschaft(en) um.

Neben der Lehrerbildung sollte ein Schwerpunkt auf der wissenschaftlichen Erforschung des Sports liegen. Die Fachzeitschrift für Leibeserzieher hieß nun "sportunterricht". 1970 wurde das Bundesinstitut für Sportwissenschaft in Köln gegründet. 1971 erschien das erste Heft der Zeitschrift Sportwissenschaft.

Spitzensport Gerätturnen

Für das Turnen bedeutete dies, dass das Gerätturnen sich auch zum Spitzensport entwickelte. Andere turnerische Disziplinen wie die Gymnastik und das Trampolinturnen folgten nach.

1984 wurden erstmals in der Wettkampfgymnastik unter der Bezeichnung Rhythmische Sportgymnastik bei Olympischen Spielen in Los Angeles olympische Wettbewerbe ausgetragen. Hier dürfen bis heute nur Frauen an den Start gehen.

Das Trampolinturnen wurde 2000 in Sydney ins olympische Wettkampfprogramm aufgenommen.

AUSGABE  München 04-2022 | Historisches Turnen bei den Olympischen Spielen München 1972 
AUTOR       Prof. Dr. Michael Krüger