Frauenturnen | Bildquelle: Frankfurter Turnverein 1860 e.V.
Historisches

Das Frauenturnen

Raus aus dem Korsett

Über 3.000 Menschen haben mit großer Begeisterung am Wochenende vor dem 1. Mai 2023 beim Bayerischen Turnfest in Regensburg den Wettkampf der Bundesliga der Frauen verfolgt. Zu sehen waren in der Donau-Arena turnerische Höchstleistungen, dargeboten von Mädchen und Frauen im Alter von 12 bis 34 Jahren. Auch im Stadtbild spiegelte sich an den gut besuchten einzelnen Turnfest-Stationen wider, dass rund 70 Prozent der Mitglieder im Deutschen Turner-Bund weiblichen Geschlechts sind. 

Das jedoch war nicht immer so. Während turnende Frauen heute als Normalität und nicht mehr als Besonderheit (es ist ja eher frauengeprägt) wahrgenommen werden, hatte das Turnen in seinen Anfängen für das vermeintlich schwache Geschlecht damals geradezu revolutionäre Züge. So heißt es in der 1849 vorgelegten Satzung des Frankfurter Frauenturnvereins:
 

§. 1. Die Zeit der Rache ist gekommen!

Im überwallenden Gefühl unserer angestammten Kraft ergreifen wir muthig die Waffen gegen die Erzfeinde unseres Geschlechtes. Unsere Wahlstatt ist der Turnplatz. Dort unter Gottes freiem Himmel, im Angesicht des Tages, entbieten wir offenen und ehrlichen Kampf der Trägheit, Verweichlichung und Entartung der Frauenwelt. Unsere Loosung ist: Deutsches Frauen-, Menschenthum. Unfehlbar ist der Sieg: wir wollen, wir werden die verscherzte Kraft der Jugend uns wiedererobern, und mit dem Körper wird der Geist umschwingen!
 

Raus aus dem Korsett

Die Mitglieder verpflichteten sich mit ihrem Beitritt unter anderem, "wöchentlich zweimal zu turnen, und zwar ungeschnürt in linnener Turnkleidung", "auch außer dem Turnplatz allen und jeden körperlichen Zwang, als der freien Bewegung hinderlich und somit der Gesundheit schädlich, zu verwerfen und abzulegen", "einfach zu werden, nämlich allen eitlen Schmuck und Tand zu verachten und zu verbannen" sowie "die Fremdwörter zu meiden, und sich der deutschen Reinsprache zu befleißigen".

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch hatte das ganz anders ausgesehen: Vor allem das Korsett - ein aus Stahl, Fischbein und festem Stoff bestehender Panzer - presste den Körper in die erwünschten Formen. Während Männer nach Arbeit und Leistung bewertet wurden, waren es die "Repräsentationsqualitäten", die eine gute Frau nach den geltenden Konventionen ausmachten.

In den Schulen wurden Mädchen ausschließlich zu Gefälligkeit, Anstand und Häuslichkeit erzogen. An den sogenannten "höheren Töchterschulen" wurden sie auf ihre Repräsentationsaufgaben vorbereitet. Heiraten erschien als einzige Perspektive, wollten sie nicht als "alte Jungfern" enden.
 

Schlupfloch: Gesundheitsförderlichkeit

Als das Turnen 1819 aus politischen Gründen verboten wurde, suchten und fanden die Turner in der Gesundheitsförderlichkeit das Schlupfloch, um ihre Bewegung weiterzubetreiben. Erst auf diesen Zug konnte das Mädchenturnen aufspringen. Denn die Gesundheit der Mädchen sollte Gesundheit und Wehrhaftigkeit des ganzen deutschen Volkes gewährleisten. "Starke werden nur von Starken geboren", waren sich damals Ärzte wie Turnlehrer einig. Moritz Kloss, Direktor der Sächsischen Turnlehrerbildungsanstalt in Dresden und seines Zeichens "Vater des Mädchenturnens", argumentierte im Jahr 1871: "Turnen sollte die körperliche Gesundheit fördern, damit unsere Mädchen nicht zu schwächlichen Hausfrauen, zu verstimmten Gattinnen und zu kränklichen Müttern werden." Anmut, Sanftheit, Duldsamkeit, Frömmigkeit und Sittsamkeit waren dabei die nach seiner Ansicht zu fördernden weiblichen Tugenden.

Breites Kreuz? Unerwünscht!

Unumstritten war auch dies damals freilich nicht. Viele Protagonisten befürchteten gar, dass mit "breitem Kreuz und dickem Hals" unweigerlich die "psychische und physische Vermännlichung" einhergehe und am Ende nur noch "Emanzipierte, Amazonen und Mannweiber" stünden.

So waren die Frauen im Kreis der Turner lange Zeit eher geduldet denn integriert. Noch 1895 stellte man in der Deutschen Turnerzeitung grundsätzlich fest: "Den Damen wirkliche Mitgliedsrechte, Sitz und Stimme ... einzuräumen, daran wird wohl kein Verein denken". Und selbst der fortschrittlich denkende Kloss räumte ein: Keinesfalls dürfe "die beabsichtigte leibliche Ausbildung auf Kosten der zarten Weiblichkeit ausarten, die Zartheit der Empfindungen nicht vertauscht werden gegen ein keckes, kühnes männliches Wesen". 

Entwicklung nicht mehr aufzuhalten

Die Entwicklung selbst jedoch war, einmal entfesselt, nicht mehr aufzuhalten. Frauen gründeten eigene Sportvereine, erbrachten herausragende Leistungen und nahmen 1900 gegen den Willen Pierre de Coubertins und seiner Anhänger zum ersten Mal an den Olympischen Spielen teil.

Die Deutsche Turnerschaft dagegen lehnte Frauensport weiterhin strikt ab. Nicht nur, weil dieser sich nicht mit den dort vorherrschenden Frauenidealen vertrug, sondern wohl auch, weil man sich vor dem Verlust der eigenen sportlichen Monopolstellung und Leitbildfunktion fürchtete. Waren doch beim Tennis oder Reiten zum Beispiel Frauen bereits weitgehend akzeptiert worden und schickten sich an, nun selbst Sportarten wie Skispringen, Radfahren oder Fallschirmspringen zu erobern.

Ein Schritt zurück

Politische Umwälzungen, ökonomische Krisen, soziale Erschütterungen und die Auflösung traditioneller Wertorientierungen nach der militärischen Niederlage im Ersten Weltkrieg halfen ironischerweise gerade dem Frauenturnen, weiter voranzukommen. Korsett und lange Röcke wurden abgestreift, die Haare kurz und Schlankheit und gesunde Sonnenbräune prägten das Idealbild des "Sportgirls". Doch nicht nur das: Die moderne Frau der 1920er Jahre war eine erfolgreiche Frau: selbstbewusst in Beruf, Sport und Liebe. Die sich anbahnenden positiven Entwicklungen der Weimarer Republik fanden durch die Gleichschaltung im Nationalsozialismus ein jähes Ende. Zwar wiesen Ideologie und Politik der Nationalsozialisten dem Sport einen hohen Stellenwert zu, die Aufwertung des Körpers und des Sports waren aber mit einer politischen Funktionalisierung und Instrumentalisierung verbunden. Gleichzeitig erreichte die geschlechtsspezifische Polarisierung der Leibesübungen einen neuen Höhepunkt, indem die NS-Ideologie Frauen wieder auf die Gebärfunktion, Männer auf ihre Wehrtüchtigkeit zu reduzieren versuchte. Nach dem 2. Weltkrieg dauerte es bis zu den 60er Jahren, bis das Frauenturnen wieder richtig Fahrt aufnahm. Die Zuwachsraten der Frauen im DTB lag da schon weit über denen der Männer. Außerdem tauchte eine neue und "typisch weibliche" Sportart auf: die Rhythmische Sportgymnastik. Während das Männerturnen Kraftelemente und akrobatische Schwierigkeiten zunehmend in den Vordergrund rückte, entwickelte sich im Bereich des Frauenturnens eine Kombination von Ballett, Tanz und Gymnastik, bei der die Ästhetik im Mittelpunkt stand. Die ersten Weltmeisterschaften wurden 1965 in Prag organisiert, 1984 in Los Angeles wurde die Sportart olympisch. 

Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung

In den 1990er Jahren begannen die Frauen auch ihren über die Jahrtausendwende andauernden sportpolitischen Marsch durch den Verband und die Institutionen, in dem sie mehr und mehr auch in leitende Positionen rückten.

Heute sind die Frauen wohl nahezu in jeder Hinsicht im Turner-Bund angekommen bzw. prägen Angebote und Mitgliedschaften. Zuletzt bewiesen sie im Gerätturnen genug Selbstbewusstsein, die über beinahe einhundert Jahre erstrittene Forderung nach turngerechter Kleidung wieder selbst auf den Prüfstand zu stellen, indem sie durch das Tragen von Ganzkörper-Turnanzügen ihr Recht auf Selbstbestimmung unterstrichen. Auch wenn dieses Projekt bisher international keine Nachahmerinnen fand, wie die gerade zurückgetretene 13-fache Deutsche Meisterin Kim Bui im April in einem SWR-Radiointerview bedauerte, so zeigen die erbrachten Leistungen der Frauen im Turnen, sowohl sportlich als auch in den Institutionen, dass sie zu Recht angekommen sind. 

AUSGABE  175 Jahre 02-2023 | Historisches | Raus aus dem Korsett
AUTOR       Nils B. Bohl