Heilbronner Turnerwehr 1848 | Bildquelle: DTB-Archiv
Historisches

Turner und Turnvereine in der Revolution von 1848

Kämpfer für eine große Sache

Der damals 21-jährige Jurastudent Theodor Georgii aus Esslingen fragte auf dem Reutlinger Turnfest im Frühjahr 1845 die versammelten Turner aus Württemberg: "Soll ich euch lange sagen, was wir wollen, was wir streben?" und er gab selbst die Antwort: "Wir wollen ganze Menschen werden! Es ist nicht viel und ist doch alles; denn es heißt alle Kräfte, welche die Natur in uns gelegt, zu entwickeln, in dieser Entwicklung alle anderen, die ganze Welt zu umfassen (…) Eines aber freut mich am meisten, dünkt mir das höchste an unserer Sache, es ist das gleichmachende, wenn ihr wollt demokratische Element, dass sich alle fühlen als Brüder, als Kämpfer für eine große Sache, für’s Vaterland."

Der Vormärz

Das Reutlinger Turnfest fand lange vor der großen Revolution von 1848/49 in der Zeit des so genannten "Vormärz" statt. In diesen Jahren entwickelten sich in Politik und Gesellschaft die Ideen und dann auch Aktivitäten, die schließlich in einer Revolution in ganz Europa und auch in Deutschland zum Ausbruch kamen. Forderungen nach Freiheits- und Menschenrechten, nach Grundrechten wie der Presse- und Meinungsfreiheit, nach Versammlungsfreiheit, und nicht zuletzt auch nach Gewerbefreiheit wurden überall erhoben. Nur in einem geeinten deutschen Vaterland schienen den Zeitgenossen diese Ziele erreichbar.

Die Turner als Wegbereiter

Die Turner waren Wegbereiter dieser Entwicklung und mischten kräftig mit, sowohl im Vormärz als auch in der Revolution selbst und schließlich danach, als es galt, die Scherben der gescheiterten Revolution zusammenzukehren. Sie waren Teil der "Erfolgsgeschichte einer gescheiterten Revolution", wie der Titel des rechtzeitig zum 175-jährigen Jubiläum erschienen Buchs der Historikerin Alexandra Bleyer lautet.

Turnplätze geschlossen, Jahn verhaftet

Wir erinnern uns: Die Jahn‘schen Turnplätze waren 1819 geschlossen und Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852) selbst, der "Turnvater" verhaftet worden, nachdem ein junger Turner und Student, Karl Ludwig Sand, einen politisch motivierten Mord an August von Kotzebue begangen hatte, einem bekannten Dichter, der von den aufrührerischen und freiheitsliebenden Turnern als russischer Spion verdächtigt wurde. Daraufhin wurden auf Geheiß Fürst Metternichs und des Deutschen Bundes die Turnplätze überall in Deutschland geschlossen. Der Deutsche Bund war die politische Dachorganisation, die nach dem Sieg über Napoleon auf dem Wiener Kongress als Staatenbund in Deutschland gegründet worden war. "Die Gedanken sind frei", wurde dann jedoch in einem populären Revolutionshit der Vormärz- und Revolutionszeit geschmettert. Und diese Gedanken bestanden zum einen aus den Ideen der Freiheit des einzelnen Menschen, der Anerkennung seiner Menschenwürde und grundlegenden Rechten. Zum anderen aus der Idee der Gemeinschaft und Solidarität einer Nation. In Frankreich wurde aus diesen Ideen die „grande nation“ geboren, und in Deutschland die Idee eines vereinten und freien Vaterlands. Freiheit des Einzelnen und Einheit der Nation und des Vaterlands gehörten damals zusammen.

Die Turner ließen sich trotz der Schließung der Turnplätze nicht unterkriegen. Für sie bedeutete Freiheit auch und vor allem Bewegungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit. Das meinte auch Georgii, als er in Reutlingen davon sprach, dass die Turner nicht mehr und nicht weniger wollten, als "ganze Menschen", also Menschen mit Leib und Seele zu sein, denen das Recht zugestanden wird, die ihnen innewohnenden Kräfte, "welche die Natur in uns gelegt", zu entfalten. Um dies zu ermöglichen und zu erkämpfen, ist Solidarität und Gemeinschaft nötig, meinte er, oder um es politischer mit einem Wort auszudrücken: Demokratie. Damit meinte er das Recht und Möglichkeit, in Staat und Gesellschaft mitzubestimmen, und dies auf der Grundlage gegenseitiger Anerkennung, Gleichheit und Toleranz. Die Turner wollten selbst über sich und ihr Schicksal, ihren Körper und ihre Bewegungen bestimmen können und sich nicht länger von Aristokraten, Monarchen und Diktatoren vorschreiben lassen, was sie zu tun und wie sie sich zu bewegen hätten.

Der Schlapphut -

auch Heckerhut oder Kalabreser

Mit Theodor Georgii trat eine neue Generation von Turnern ins Rampenlicht der (Turn-)Geschichte. Sie stammten eher aus dem Süden und Südwesten Deutschlands, wo ein liberaleres Klima herrschte als in Preußen. In Baden und Württemberg wurden im Vormärz die ersten Turnvereine gegründet, u.a. in Stuttgart, Esslingen, Gmünd, Heilbronn und vor allem in Mannheim. Besonders der Turnverein in Mannheim sorgte für Furore. Seine Mitglieder waren besonders politisch aktiv. Zu seinen Gründern zählte Gustav Struve (1805-1870), der zu einem der bekanntesten Anführer der Revolution werden sollte, gemeinsam mit seinem Kollegen und Heißsporn Friedrich Hecker (1811-1881). Beide trugen die revolutionären Schlapphüte.

Nach der Niederschlagung der Revolution in Baden durch preußische Truppen mussten sie in die USA auswandern. Dort waren sie an der Gründung der amerikanischen Turnbewegung beteiligt. Wie die Revolutionäre trug auch Theodor Georgii zeit seines Lebens einen Schlapphut als Symbol der freiheitlich-liberalen Ideale der Turnvereinsbewegung.

Organisiertes Vereinsleben

Die Turnbewegung der 1840er Jahre war politischer, liberaler und demokratischer als das alte Jahn‘sche Turnen. Es ging um große politische Ziele und Ideale, nicht nur um Toben und "Tummeln" auf einem Turnplatz, wie dies Jahn in der "Deutschen Turnkunst" geschrieben hatte. Man organisierte sich in Vereinen mit formal korrekten, verschriftlichten Satzungen, so wie sich dies die Demokraten und Liberalen mit einer Verfassung für eine freie, demokratische Republik in Deutschland vorstellten: Kein Fürstenstaat, in dem Willkür herrschte, sondern ein Rechtsstaat, in dem fair und gerecht nach demokratisch beschlossenen Regeln gehandelt wird. In diesem Sinn sollten auch die Turnvereine gestaltet werden und ihr Vereinsleben organisieren. Gleiches sollte für die Vereinigung der Turnvereine in einer nationalen Dachorganisation, einem Deutschen Turnerbund, wie er 1848 zunächst in Hanau unter Vorsitz von Georgii gegründet wurde, gelten. Nachdem diese Gründung angesichts der "gescheiterten Revolution" keinen Bestand hatte, wurde 1860 in Coburg ein neuer Anlauf genommen – nun unter dem Namen Deutsche Turnerschaft (DT).

Deshalb standen die Vertreter der Turnvereine Spalier, als die gewählten Abgeordneten des ersten frei gewählten Parlaments, der Frankfurter Nationalversammlung, in die Paulskirche einzogen und über die erste freiheitlich-demokratische Verfassung in Deutschland berieten. Sie betrachteten das Turnen und die Turnvereinsbewegung als Teil dieser demokratischen Bewegung und Revolution, die den Menschen in Deutschland Freiheit, Einheit und Rechtsstaatlichkeit bringen sollte.

Theodor Georgii selbst steht darüber hinaus für die Kontinuität dieser liberalen und nationalen Turnbewegung im Kaiserreich. Er gründete 1848 den Schwäbischen Turnerbund, leitete im selben Jahr die Versammlungen zur Gründung des Deutschen Turnerbunds in Hanau, versammelte 1860 die Turner und Turnvereine zum ersten Allgemeinen Turn- und Jugendfest in Coburg und war der erste Vorsitzende der Deutschen Turnerschaft.

Die größte freiwillige Bürgerinitiative der Welt

Die Turn- und Sportvereinsbewegung sieht sich bis heute gern und zurecht in der Tradition der Revolution von 1848. Sie ist nach der Katastrophe des Dritten Reichs wie Phönix aus der Asche des Krieges neu hervorgegangen. 1974 bezeichnete sie der frisch gewählte Präsident des Deutschen Sportbundes, Willi Weyer, als "größte freiwillige Bürgerinitiative der Welt".

AUSGABE  175 Jahre 02-2023 | Historisches | Kämpfer für eine große Sache
AUTOR       Prof. Dr. Michael Krüger