Reuther-Brett | Bildquelle: SPIETH
Historisches

Das Reuther-Brett

Ein Sprungbrett in den Olymp

Fußballerinnen und Fussballer haben es leichter als Turnerinnen und Turner. Auf jeden Fall, wenn es um Andenken für Heldentaten geht. So ein Ball ist schnell mal im Handgepäck verschwunden. Zuletzt hat der norwegische Überflieger Erling Haaland von Manchester City eines der Spielgeräte des Abends einkassiert, nachdem er beim 7:0-Sieg im Achtelfinal-Rückspiel der Champions League gegen RB Leipzig fünf Treffer erzielt hatte. Was der 22-Jährige nun mit dem Ball anfängt, ist nicht überliefert. Vielleicht ist er Staubfänger in einer Reihe wichtiger Bälle. Vielleicht dient er aber auch der Jugend als Übungsgerät und Motivation. 

Letzteres war die Idee von Fabian Hambüchen für das Reck, an dem er sich 2016 in Rio de Janeiro seinen großen Traum von der olympischen Goldmedaille erfüllte. Hambüchen wollte es kaufen, als Erinnerung und als besonderes Trainingsgerät für den Nachwuchs in seinem Heimatort Wetzlar.

Aber so ein Reck klemmt man sich ja nicht mal eben unter den Arm und spaziert damit zum Flughafen.

Und hier kommt die Firma Spieth Gymnastics ins Spiel, die seit den 50er Jahren in Esslingen Turngeräte entwickelt, produziert und zu Wettbewerben in aller Welt liefert. Die Schwaben gaben sich alles andere als knauserig und sorgten dafür, dass Hambüchens Gold-Reck sorgsam in Rio ab- und in Wetzlar wieder aufgebaut wurde. Zahlen musste der deutsche Ausnahmeturner dafür nicht.

Spieth ist Weltmarktführer in Sachen Turngeräte

– aber noch immer eine sehr nahbare Firma, der man ihre lange Tradition als Familienunternehmen anmerkt.

Die letzten Spieths an der Spitze waren in fünfter Generation bis 2007 Ulrich und sein Bruder Rudolf Junior. 1831 hatte Wilhelm Ludwig Spieth in Oberesslingen eine kleine Schreinerei gegründet, die zunächst Fensterläden aus Holz produzierte. Nach dem Krieg kamen die bis heute bekannten Stühle des Architekten und Möbeldesigners Egon Eiermann dazu. Und Rudolf Spieth Senior, der Vater von Ulrich und Rudolf Junior, begründete dank seiner persönlichen Begeisterung für den Turnsport eine unternehmerische Erfolgsgeschichte.

Lange Tradition

Ulrich Spieth, heute 82 Jahre alt, war ein Teenager, als sein Vater mit seinem Freund Richard Reuther, Nationalturner und Ingenieur, in der Firma an einem federnden Sprungbrett zu tüfteln begann.

Für die Eiermann-Stühle hatte man bei Spieth bereits erdacht, wie sich Schichtholz mittels eigens konstruierter Pressen verformen lässt. Für die Sprungbretter mit Vorspannung, die Reuther vorschwebten, habe man nur die Werkzeuge anpassen müssen, erzählt Ulrich Spieth.

Reuther war getrieben von der Idee, Turngeräte zu erschaffen, die die Verletzungsgefahr für Athletinnen und Athleten verringerten und ihre Leistungsmöglichkeiten erhöhten.

Geschichte der Turngeräte

Rudolf Spieth Senior (1909 bis 1993) schreibt in einem im Vorfeld der Turn-WM 1989 in Stuttgart verfassten Büchlein zur Geschichte der Turngeräte über Richard Reuther (1909 bis 1992):

"Sein Zentralthema war "Das Turngerät im Dienste des Turners", nachdem er am eigenen Leib als fleißiger Gerätturner die Nachteile der allzu starren, die Muskeln verhärtenden und Gelenke gefährdenden Turngeräte Reck und Barren und der HiIfsgeräte Sprungbrett und Niedersprungmatten erfahren hatte."

Reuther laborierte häufig an Verletzungen und entwickelte so die Idee elastischer, gelenkschonender und zugleich die Bewegung der Turnerinnen und Turner unterstützender Geräte.

Letztlich half er damit nicht nur den Athletinnen und Athleten, sondern verpasste auch der Entwicklung des Turnens einen Schub, da die Elemente an den neueren Geräten immer anspruchsvoller und spektakulärer wurden.

Die erste Erfindung

Gleich seine erste Erfindung, das federnde Sprungbrett, noch heute als Reuther-Brett weltweit bekannt, wurde ein voller Erfolg.

Ulrich Spieth hat die Jahreszahlen parat als wäre das alles gestern gewesen: 1955 sei das Brett bei der EM in Frankfurt vorgestellt worden. Und im Vergleich zu dem starren Holzkeil, von dem man vorher abgesprungen war, löste es Begeisterung aus. Ulrich Spieth war damals 14 Jahre alt und wie einst sein Vater als Turner aktiv. Auch wenn er, wie er sagt, nie in der Spitzenklasse geturnt habe, ist er zunächst ohne und dann mit Reuther-Brett gesprungen.

"Der Unterschied war enorm, die federnde Unterstützung hat einen viel höher geworfen", erinnert er sich. 

Und so ging die Erfolgsgeschichte des Reuther-Bretts und damit der Firma Spieth und des Turnens insgesamt weiter. Bei den Olympischen Spielen 1956 in Melbourne wurden die neuartigen Sprungbretter aus Deutschland genutzt – und der Deutsche Helmut Banz gewann Gold am Pferdsprung. In Oberesslingen tüftelten sie weiter. Ulrich Spieth zählt auf: Bei der WM 1966 in Dortmund wurde ein neuer Stufenbarren mit Vorspannung ausprobiert, bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexiko turnte die Weltelite an ihm. Heute ist das Turnen der Frauen am Stufenbarren ein ganz anderes als einst am Männer-Barren, dessen Holme einfach nur unterschiedlich hoch eingestellt wurden.

Sicherung bei Materialbruch

Bei der WM 1974 im bulgarischen Warna wurde der neue Schwebebalken der Firma Spieth genutzt. Er war nicht mehr aus Holz gefertigt, das schwer war und sich bei ungünstigen Verhältnissen von Temperatur und Luftfeuchtigkeit verformen konnte, sondern aus Aluminium mit einer Polsterung und einer speziellen Kunstfaser-Ummantelung. 1988 folgte eine Reckstange, durch die man bei Spieth ein Stahlseil gezogen hatte, eine Sicherung bei einem möglichen Materialbruch.

Auch den Schwingboden für das Bodenturnen und die Matten für die Landungen revolutionierten sie bei Spieth. In der Berliner Hasenheide, wo Friedrich Ludwig Jahn am 19. Juni 1811 den ersten Turnplatz in Preußen eröffnete, wurde noch im Sand gelandet. Als das Turnen in Hallen zog, dienten zunächst Kokos-Matten als Unterlage für Landungen.

Die Entwicklung ging weiter über die sechs Zentimeter dicke, blaue Turnmatte, die jeder aus seiner Schulzeit kennt, bis hin zu den 1996 eingeführten 20 Zentimeter dicken Hochleistungsmatten, die der renommierte Biomechanik-Professor Gerd-Peter Brüggemann von der Deutschen Sporthochschule in Köln damals empfahl. "So kam ein Gerät nach dem anderen", sagt Ulrich Spieth, der die Geschäfte zusammen mit Rudolf Junior 1971 vom Vater übernahm.

Hobby zum Beruf gemacht

Ulrich fungierte als kaufmännischer, Rudolf Junior als technischer Leiter. "Sein Hobby zum Beruf machen zu können, ist das Schönste, was einem passieren kann", sagt Ulrich Spieth. Und er betont: "Ohne Richard Reuther und meinen Vater wäre es im Kunsturnen nicht so vorangegangen."

Bis heute hat die Firma Spieth 12 Olympische Spiele, 53 Weltmeisterschaften und 66 Europameisterschaften ausgestattet. Ein Großteil der Produkte entsteht noch immer in Altbach bei Esslingen in Handarbeit. Seit 2014 liegt der Firmensitz in Altbach, obwohl die Firma 2007 vom holländischen Partner Janssen und Fritsen übernommen und Teil der französischen ABEO-Gruppe geworden ist. Die Produktpalette reicht inzwischen vom Kunstturnen über die Rhythmische Gymnastik und Sportakrobatik bis hin zu Aerobic, Judo und Parkour.

Ständig im Austausch

Getüftelt wird immer weiter. "Wir sind im engen Austausch mit allen Beteiligten des Turnsports, Athleten, Trainern und anderen Verantwortlichen. So schaffen wir es, Turngeräte an den Bedürfnissen orientiert zu entwickeln und somit der Sportart und den Athletinnen und Athleten die Möglichkeit zu bieten, sich ebenfalls weiterzuentwickeln und Höchstleistungen zu erreichen. Natürlich immer entsprechend den Regularien des Welt-Turnverbandes", sagt Jeanette Grau, Leiterin für den Vertrieb in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Auch am Reuther-Brett wird hier und da nochmal etwas verbessert. Aber die Grundidee von Richard Reuther und Rudolf Spieth ist für die Ewigkeit. Noch immer werden jährlich ein paar Tausend Reuther-Bretter der Firma Spieth verkauft.

AUSGABE  175 Jahre 02-2023 | Historisches | Ein Sprungbrett in den Olymp
AUTORIN   Susanne Rohlfing