Wallonisch-Niederländische-Kirche Hanau | Bildquelle: Historisches Museum Hanau Schloss Philippsruhe/Hanauer Geschichtsverein 1844 e.V.
Historisches

Turngemeinde 1837 Hanau & August Ferdinand Schärttner

Das Streben nach Freiheit und Gleichheit

Stolz sind sie bis heute bei der Turngemeinde 1837 Hanau a. V. (TGH), bei der Gründung des Deutschen Turner-Bundes (DTB) vor 175 Jahren eine besondere Rolle gespielt zu haben.

Denn einer von ihnen war es, der die Sache ins Rollen brachte, der die Vertreter von Turngemeinden aus ganz Deutschland zu einem Allgemeinen Turntag Anfang April 1848 in die Stadt am Main einlud und der erste Präsident des am 3. des Monats geschaffenen Verbandes werden sollte.

Rüdiger Arlt, der heutige Präsident des hessischen Mehrspartenvereins, hat sich mit diesem Vorturner, dem am 31. Januar 1817 geborenen August Ferdinand Schärttner, aber auch mit dessen Gefährten und TGH-Gründer Christian Anton Lautenschläger intensiv auseinandergesetzt. Ihn interessierte die Geschichte, wie der Familienvater sagt, obwohl er selbst der Basketballszene entstammt.

Vereinsgründung trotz Verbot

Gerade mal 16 Jahre alt war der am 7. Dezember 1820 geborene Lautenschläger, Sohn eines Metzgers, aber selbst dem Handwerk des Graveurs und Modelleurs zugeneigt, als er 1837 zusammen mit ein paar Freunden beschloss, einen Turnverein zu gründen. Die Bewegung, die damals offiziell verboten war, weil ihre Anhänger als Revolutionäre galten und 1819 deshalb eine Turnsperre verhängt worden war, faszinierte ihn, und der junge Mann, der in einem privaten Turnclub der Gebrüder Carl mit übte, wollte neben dem Körper durch das harte Training auch die Gemeinschaft stärken, die er dabei erlebte. Nachdem der erste Versuch einer Vereinsgründung 1836 gescheitert war, waren beim zweiten Versuch eine Turngemeinschaft in Hanau zu gründen gerade mal zwölf Interessierte, alle noch Jugendliche, dabei, als die TGH entstand. Lautenschläger, der sich eigentlich nicht als Führungspersönlichkeit sah, sollte Leitung und Vorsitz übernehmen; schließlich hatte er auch eingeladen. Der Berufene wehrte sich nicht.

Ziel: Kontakt, Begegnungen, Vergleiche

Ziel war es vorerst nur, gemeinsam zu turnen sowie den Kontakt mit Gleichgesinnten zu suchen und zu halten, um Begegnungen und Vergleiche zu organisieren. Schärttner war zu diesem Zeitpunkt noch als Geselle auf der Walz; er hatte, wie sein Vater, das Küfer-Handwerk gelernt, die Herstellung von Gefäßen und Bottichen also, und sollte erst Ende 1837 in seine Heimatstadt zurückkehren. Mit brachte der 20-Jährige nicht nur die Führungsqualitäten, die bei Lautenschläger deutlich weniger ausgeprägt waren, sondern auch das Gedankengut der Französischen Revolution, das Streben nach Freiheit und Gleichheit. Konkurrenz machte Schärttner seinem Turnkollegen als TGH-Mitglied nicht, übernahm dessen Position erst, als auch der Jüngere wenige Jahre später auf Wanderschaft ging, um seine Ausbildung abzuschließen. Bis 1846 war Lautenschläger unterwegs und gründete in dieser Zeit unter anderem zusammen mit Christian Lelong die Stuttgarter Turngemeinde, den Vorgängerverein des heutigen MTV.

Der erste deutsche Turnverband

Unter Schärttner, der 1843 auch Gründungsmitglied der Hanauer Turnerfeuerwehr war, gedieh die TGH prächtig: 350 Turner gehörten ihr mittlerweile an, es gab eine Satzung und eine Gesellschaftsordnung, die den Mitgliedern Disziplin und vorbildliches Leben vorschrieb. Turnfeste wie jenes noch heute bestehende auf dem Feldberg, das unter Schärttners Leitung erstmals 1844 gefeiert wurde, sorgten für Austausch mit anderen. Schon früh hatten die Hanauer Kontakte zu Turnern aus Offenbach, Frankfurt, Darmstadt oder Mainz gesucht, woraus sich dann auch am 7. November 1840 in einer kleinen Gastwirtschaft in Frankfurt-Mainkur der erste deutsche Turnverband, der Rheinisch-Hessische Turnbezirk, entwickelte.

Die politische Seite der Bewegung trat immer stärker hervor. Die Hanauer Turner wehrten sich, als einem Mitglied einer Aufklärungskirche, einem Deutschkatholiken, die Beerdigung auf dem kirchlichen Friedhof verweigert werden sollte, und erzwangen diese. Kurzfristig sollte das Ereignis für das Verbot der TGH an Heiligabend 1847 sorgen. Die einfallsreichen Turner umgingen dieses jedoch, indem sie sich im Januar als Gesangsverein ausriefen; einen Spielmannszug gab es da bereits unter ihrem Dach.

Märzrevolution 1848

Das erfolgreiche Aufbegehren gegen die Konventionen bildete aber auch den Auftakt zur Märzrevolution 1848. Schärttner und Lautenschläger gehörten der Delegation der von den Bürgern gewählten Volkskommission an, die, später dafür auf dem heimischen Marktplatz gefeiert, dem Kurfürsten Friedrich Wilhelm das Hanauer Ultimatum in Kassel überreichte und diesem neben weiteren Grundrechten auch das Versammlungsrecht abrang.

Gründung DTB am 3. April 1848

So war es auch möglich, trotz TGH-Verbot, am 19. März alle deutschen Turnvereine zu einer Zusammenkunft nach Hanau einzuladen und damit zur Gründung des DTB am 3. April 1848 in der Wallonisch-Niederländischen-Kirche; ein Ereignis, dem auch Turnvater Friedrich Ludwig Jahn beiwohnte. Unter Schärttner, einem Mann mit starken Überzeugungen, sollte der DTB weniger ein Verband für Leibesübungen als eine politische Organisation sein. Deshalb wollte er die gerade erst verabschiedete Satzung noch einmal korrigieren, denn in dieser war aus seiner Sicht nur vorgesehen, "Lorbeerkränze an Sieger zu überreichen".

Vom Kampf für Demokratie, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wurde darin nicht geschrieben.

Schärttner berief einen zweiten Turntag Anfang Juli ein, bei dem man sich nicht einigen konnte. Eine Abstimmung zur Änderung der Satzung verloren der Präsident und seine Anhänger mit 45:55 Prozent. Schärttner legte sein Amt wieder nieder, um mit weiteren Andersdenkenden den heute nicht mehr existenten Demokratischen Turnerbund zu gründen. Für den Bruch zwischen dem Hanauer und dem Lanzer Jahn sorgte die Frage, ob das wiedervereinigte Deutschland eine konstitutionelle Monarchie oder eine Republik sein sollte. Heute sind eine Großsport-Halle nach Schärttner und Straßen nach ihm und seinem Berater Lautenschläger benannt. Die TGH ist ein florierender Verein, der während der Pandemie zwar 500 Mitglieder verlor, mit 3.100 Mitgliedern aber wieder aufsteigende Tendenz beweist. Der gerade laufende Bau eines vereinseigenen Sportcampus soll ihr weiteren Aufwind verleihen.

Zu ihren Besonderheiten gehört, dass sie noch immer als a. V. residiert, als anerkannter oder altrechtlicher Verein also. Ein Dekret des Königs von Preußen 1893 hatte festgelegt, dass die Turngemeinde 1837 Hanau als juristische Person einzuordnen sei. Dass man nicht wie die meisten ein e. V. und im Vereinsregister eingetragen sei, mache "keinen Unterschied" sagt Arlt.  

Aber auch das ist etwas, worauf die Hanauer ein bisschen stolz sind.

AUSGABE  175 Jahre 02-2023 | Historisches | Das Streben nach Freiheit und Gleichheit
AUTOR*IN  Katja Sturm und Rüdiger Arlt