Luftaufnahme Sitzgruppe | Bildquelle: Rainer Knoblauch
Fit & Gesund

Wie zwei engagierte Frauen ein ganzes Dorf in Bewegung brachten

Und sie bewegen sich doch

In den sanften Hügeln des Harzvorlandes gelegen, offenbart das idyllische Dorf Molmerswende nicht nur eine malerische Kulisse, sondern in vielerlei Hinsicht bemerkenswerte Geschichte. Zum einen hat es durch seine inspirierende Landschaft und die Atmosphäre der Kreativität eine Vielzahl von Künstlern hervorgebracht oder angezogen. Einer der prominentesten Persönlichkeiten ist der aufgrund seiner Geschichten über die Feldzüge und Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen berühmte Lyriker Gottfried August Bürger, dessen poetische Werke die romantische Seele des Dorfes widerspiegeln und dessen Erbe bis heute in den Herzen der Bewohnerinnen und Bewohner lebendig ist. Einen weiteren bedeutenden Beitrag zur künstlerischen Szene von Molmerswende leistet der Kunsthof, den die Malerin Heike Wolff und die Keramikmeisterin Silke Becker gemeinsam betreiben. Auch der Maler Heino Koschitzki lebte hier und brachte die Schönheit der umliegenden Landschaft in lebendigen Farben auf die Leinwand.

Doch die Gemeinde mit ihren 224 Einwohnern hat nicht nur in Sachen Natur und Kunst außergewöhnliches zu bieten. Auch in sportlicher Hinsicht ist sie ein Leuchtturm inmitten des Harzes.

Verantwortlich dafür sind Hannelore Lüning und Silke Becker.

"Dieses Dorf ist mein Heimatdorf, hier bin ich geboren und aufgewachsen", erzählt Lüning. Die heute 74-Jährige hatte nach der Schulzeit das Dorf verlassen, weil es in der Umgegend nur wenige Möglichkeiten gab. Lehre in Magdeburg, Studium in Berlin, in Leipzig angefangen zu arbeiten und dann familienbedingt nach Berlin zurückgekehrt. "Aber wo auch immer ich war, habe ich mich umgehend in einem Sportverein engagiert. Das ist so meine persönliche Freude", sagt Lüning.

Das Versprechen eingelöst

Nach dem Tod ihrer Mutter löste sie ein gegebenes Versprechen ein und kehrte 2013 wieder in ihr Heimatdorf zurück. "In Berlin war ich sportlich immer sehr aktiv, das war tatsächlich der größte Verlust", erinnert sie sich. Sie begann sich umzuhören und stieß irgendwann auf Silke Becker. Die langjährige Hobbysportlerin war in einem Verein im nahen Harzgerode aktiv. Die beiden Sportbegeisterten verstanden sich auf Anhieb. "Von da an sind wir immer gemeinschaftlich zweimal in der Woche zur Aerobic gefahren, um für uns Sport zu machen". Wann immer wir konnten, haben wir auch darüber hinaus gemeinsam gesportelt, zum Beispiel Nordic Walking oder Wandern.

Irgendwann reifte bei den beiden Ortschaftsrätinnen der Gedanke, es müsse doch möglich sein, auch die Ältesten des Dorfes irgendwie wieder in Bewegung zu bringen.

"Während wir beide den Sport immer nur als Hobby betrieben haben, haben wir aus der Verantwortung für unser Dorf heraus gespürt, dass es wichtig war, etwas für die Leute hier zu machen. Gerade für die alten Herrschaften, die nicht wie wir schnell ins Auto springen konnten, um in einen Sportverein in Harzgerode zu fahren", erklärt Lüning. 

So absolvierten sie im Jahr 2020 zunächst die Übungsleiterausbildung bei Janka Daubner in Halle.

Um dann, dank des bundesweiten DTB-Pilotprojekts AuF-Leben, sich ihren lang gehegten Wunsch nach einem sportlichen Angebot für Seniorinnen und Senioren im Dorf zu erfüllen. "Was uns an dem Projekt gereizt hat, war, dass wir da praktisch machen konnten, was WIR wollten. Unsere eigenen Ideen konnten wir verwirklichen, da nicht vorgeschrieben war, was gemacht werden sollte, sondern dass viele der Ü60-Generation in Bewegung gebracht werden sollten", sagt Lüning.

So galt ihr besonderes Augenmerk den Seniorinnen und Senioren mit Gehbehinderungen und anderen gesundheitlichen Einschränkungen, die den beiden Übungsleiterinnen alle persönlich bekannt waren und für die speziell der Kurs Fit im Sitzen konzipiert wurde.

Am Anfang stand jedoch die bange Frage:

Werden sich die "Probanden" überhaupt für das mutige Sportprojekt interessieren?

Ein Werbeaushang wäre wohl überflüssig gewesen, kommt doch genau diese Zielgruppe nicht mehr oder nur äußerst selten am Schaukasten des Ortes vorbei.

So besuchten Lüning und Becker die Seniorinnen und Senioren zu Hause und versuchten, sie für ihr Bewegungsvorhaben zu begeistern.

Mit durchschlagendem Erfolg: Alle zehn (neun Frauen und ein Mann) sagten zu, wenn auch zunächst noch ein wenig zögerlich.

Wer nicht zu Fuß kommen konnte, der wurde mit dem Auto abgeholt.

Doch kaum waren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gefunden, mussten Lüning und Becker sich neuen Herausforderungen stellen. Denn geeignete Räumlichkeiten waren in einem so kleinen Dorf nur schwer aufzutreiben. In Ermangelung einer Turnhalle improvisierten die beiden Frauen. Am 5. August 2020 bauten sie einfach im Pfarrgarten unter der riesigen uralten Blutbuche mit Stühlen aus der Kirche einen Stuhlkreis auf. "Sehr zur Verwunderung von Kuh und Eseln aus der Nachbarschaft", bemerkt Lüning mit einem Augenzwinkern.

Seit diesem Zeitpunkt jedoch, ist der Kurs für alle ein fester Termin in der Woche. Den zu verpassen ist für keinen der Seniorinnen und Senioren eine Option. "So kommen sie einmal in der Woche wieder mit anderen Leuten zusammen, denn vorher waren die regelmäßigen Kontakte rar", sagt sie. Ebenso wichtig sind die spürbaren Bewegungserfolge. In der Sportstunde allerdings dürfe nicht gequatscht werden. "Da sind wir sehr streng", sagt Lüning mit einem Lächeln. Doch davor und danach sitze man noch zusammen und schwatze ein bisschen. Für die älteren Herrschaften oftmals der Höhepunkt der Woche.

Am 11. Oktober 2023 feierte die Gruppe trotz Pandemieunterbrechungen bereits ihre 100. Zusammenkunft. Motiviert vom guten Start der Sitzgruppe, beschlossen Lüning und Becker, auch die Männer des Dorfes in Bewegung zu bringen. Die Idee: Molmerswende ist einer von 15 Orten der Einheitsgemeinde Stadt Mansfeld – ein guter Grund, alle Ortschaften zu durchwandern, um die regionale Verbundenheit zu fördern und Erinnerungen aufzufrischen. 

Allerdings war dazu ein konditionelles Vermögen von bis zu zwei Stunden Fußmarsch als Voraussetzung vorgesehen. Bei der Teilnehmergewinnung halfen die beiden Ehrenamtlerinnen in bewährter Weise noch ein bisschen im persönlichen Gespräch nach. Der Erfolg war umwerfend. Insgesamt 21 Mitstreiterinnen und Mitstreiter, darunter mehrere Ehepaare und der älteste Einwohner mit damals 91 Jahren standen am Ende auf der Anwesenheitsliste.

Ein konkreter Terminplan wurde mit allen Ortsbürgermeistern, die von dieser Idee begeistert waren, abgestimmt, damit jeweils der Ortsbürgermeister selbst oder ein ortskundiger Einwohner oder eine ebensolche Einwohnerin die Wandergruppe begleiten und Interessantes über den jeweiligen Ort sowie die Umgebung erzählen konnte. Neben der sportlichen Ausdauer erfuhren die Teilnehmenden viel Wissenswertes. Die angepeilte Zielsetzung der Übungsleiterinnen war voll erfüllt.

Gleichzeitig, neben der Organisation der Wanderkurse, wurde unter Schirmherrschaft des Vereins LIWET e. V. in Molmerswende das Projekt ATP (AlltagsTrainingsProgramm) vorbereitet und mit einer weiteren Seniorengruppe am 20. Oktober 2020 gestartet, elf weitere Frauen und ein Mann -  sogar zwei Frauen aus dem Nachbarort Pansfelde - gerieten so in Bewegung. Auch hierfür gewannen die Übungsleiterinnen alle Teilnehmenden, die allerdings noch "gut zu Fuß" sein mussten, in persönlichen Gesprächen. Nach zwei Treffen im Saal des örtlichen Landhauses LIWET kam der Corona-Lockdown. Doch nach geduldigem Warten, wurde das Training mangels Raum im Freien auf dem Sportplatz von Wacker 04 erfolgreich fortgesetzt.

Deshalb wurde auch im Rahmen des Projekts AuF-Leben ab August 2021 eine Nordic-Walking-Gruppe mit anfänglich sechs, inzwischen sogar neun Teilnehmerinnen organisiert, die zunächst immer sonntags liefen. Je nach Wetterlage sogar mehrmals in der Woche für rund eineinhalb bis zwei Stunden. Auch die Teilnahme an offiziellen Läufen anderer Orte gehört zu ihrem Programm.

Besonders die Wanderungen durch die einzelnen Ortsteile habe das Projekt vorangebracht. "Wir haben immer zuvor von den zuständigen Bürgermeistern einen Aushang machen lassen und zu unseren Wanderungen eingeladen. Und dort war man davon auch immer sehr begeistert", findet Lüning. Natürlich sei es von "Begeisterung" bis hin zu "Selbst machen" immer noch ein großes Stück Wegstrecke. Aber gerade die alten Leute hätten dabei in Erinnerungen gekramt und sogar Leute wiedergetroffen, die sie von früher kannten. Wie früher habe es Gespräche über den Gartenzaun gegeben. "Und auch für diejenigen, die uns in diesen Orten unterstützt haben, war es sehr interessant, welches Projekt wir da in unserem Dorf auf den Weg gebracht haben", freut sich Lüning.

 "Fit in Bewegung, Kraft und Ausdauer" mit Silke Becker und Hannelore Lüning.

Motto Ü60? - Na und!!!

Seit Mai 2022 halten sich unter dem Motto Ü60? - Na und!!! elf weitere Frauen im Alter von 63 bis 84 Jahren unter Anleitung von Becker und Lüning fit. Mehr als 90 Kursstunden haben sie in dem Programm "Fit in Bewegung, Kraft und Ausdauer" mittlerweile absolviert. "Es ist für unser Dörfchen und den kleinen traditionsreichen Fußballverein Wacker 04 Molmerswende schon sehr bedeutsam, dass wir seit 2020 auch den Seniorensport aufgebaut und etabliert haben. Was wir anfangs als Hindernis sahen und deshalb die Teilnahme am AuF-Leben-Pilotprojekt für unrealisierbar hielten, hat sich gerade als unser größter Vorteil herausgestellt", resümiert Lüning. 

Denn dadurch, dass man jeden mit seinen Möglichkeiten und Wehwehchen genau kenne, könne man die Kursinhalte auch genau auf die Teilnehmenden abstimmen. "Die Anzahl der seitdem regelmäßig sportelnden Seniorinnen und Senioren zwischen 60 und 91 Jahren beträgt immerhin mehr als zehn Prozent der Gesamteinwohnerzahl unseres Dorfes. Das kann keine Stadt vorweisen", ist Lüning auch als stellvertretende Bürgermeisterin überzeugt. Zehn davon seien sogar in den Sportverein eingetreten. "Dass gerade unsere ältesten Einwohnerinnen so viel Spaß an ihren wöchentlichen Sportstunden gefunden haben, macht uns beide und den Verein mächtig stolz."

"Die ALTEN sind dadurch auch zum Vorbild für die JUNGEN geworden", sagt sie. So sei es der neuen Vereinsvorsitzenden Doreen Weber zusammen mit dem fast 80-jährigen Ehrenvorsitzenden Karlheinz Günther seit 2023 gelungen, mehrere der 30 Kinder und Jugendlichen des Ortes für mehr sportliche Bewegung zu begeistern und ebenfalls wöchentlich zu trainieren. Lüning selbst dagegen will bald ein bisschen kürzer treten und nach 10 Jahren nicht mehr für den Ortschaftsrat kandidieren. Das Sportprojekt aber, das sie gemeinsam mit Becker ins Rollen brachte, wird nach ihrer Hoffnung dagegen weiter bestehen und als Vorbild für andere Nachahmerinnen und Nachahmer dienen. Mit ihrer eigenen Bewegung jedoch will Lüning keinesfalls aufhören.

Noch lange nicht.

Das Projekt AuF leben

Nach einer dreijährigen Pilotphase ist das vom GKV-Bündnis für Gesundheit geförderte Projekt "Im Alter AKTIV und FIT leben (AuF leben) – Gesundheitsförderung in der Lebenswelt Kommune" am 1. Juni 2022 in eine neue Umsetzungsphase gestartet (Laufzeit bis 31.05.2025). Eine Bewerbung zur Teilnahme am Projekt durch Kommunen und Vereine ist weiterhin möglich.

AUSGABE        Fitness 01-2024 | Fit & Gesund | Und sie bewegen sich doch
AUTOR             Nils B. Bohl