Gruppe am Strand in Namibia | Bildquelle: Privat
Einblicke

Turnbewegung Namibia

Sportstudierende auf internationaler Mission

Der deutsche Kolonialismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hat dazu geführt, dass sich in Südwestafrika, dem heutigen Namibia eine Turnbewegung entwickelte, die die beiden Weltkriege überlebte und erst in den Jahren danach zum Erliegen kam. In den letzten Jahren konnten durch viel Engagement Einzelner wieder sogenannte "Gymnastic Clubs" ins Leben gerufen werden, die aber nichts mit den deutschen Turnvereinen zu tun haben. Es handelt sich um Klubs, die sich zum einen dem Gerätturnen als Wettkampfsport widmen und es zum anderen unter Kindern fördern. Die kleine, sich noch im Aufbau befindende Bewegung leidet dabei nicht zuletzt unter der fehlenden Infrastruktur im Land, geringer Anzahl an Turn- und Sporthallen, fehlender Turngeräte und Turnkleidung. Zudem sind die Distanzen zwischen den Vereinen sehr weit und die Qualität der Straßen nicht mit denen Europas vergleichbar.

Namibia | Bildquelle: iStock
Namibia - im Süden Afrikas

Angeregt durch einen Beitrag über eine Kleiderspende an namibische Turnerinnen und Turner im Jahn Report von DTB-Vizepräsidentin Prof. Dr. Annette Hofmann, hat der MTV Moringen (in der Nähe von Göttingen) eine Spende an den Namibischen Turnerbund sowie die Dongina Risser Gymnastic Foundation (www.drgf.org) gemacht. Das Spendengeld konnte von Hofmann bei einem Namibia Aufenthalt überreicht werden. Die Dongina Risser Gymnastic Foundation arbeitet eng mit dem Gymnastic Club Swakopmund zusammen. Sie unterstützt u.a. Kinder aus Townships, also Vierteln mit vielen sozial schwachgestellten Familien in einfachsten Unterkünften, damit diese am Turnen teilnehmen können. Die Kinder werden zum Training abgeholt und zurückgebracht, sie bekommen vom Verein Turnkleidung, wie auch ein Mittag- oder Abendessen. Am Turntraining selbst nehmen aber auch „zahlende“ Kinder und Jugendliche teil, so dass verschiedene soziale und ethnische Gruppen zusammenkommen und gemeinsam turnen. Die Foundation trägt dazu bei, Kindern aus einem bildungs- und sportfernen Umfeld das Turnen näher zu bringen und gibt dem Verein zudem die Möglichkeit, neue Talente zu entdecken.

Übergabe der Spende des MTV Moringen und der Turnkleidung: v. l. Dongina Risser, Annette Hofmann, Valereis Geldenhuys

Über die finanzielle Spende hinaus konnte Annette Hofmann, DTB-Vizepräsidentin und Professorin für Sportwissenschaft/Sportdidaktik an der Pädagogischen Hochschule (PH) Ludwigsburg, auch einen Koffer mit Turnkleidung, Turnschuhen und Riemchen an die Ehrenpräsidentin des Namibischen Turnerbundes, Valereis Geldenhuys, übergeben, die unter anderem von Sportstudierenden der PH Ludwigsburg und des Instituts für Sportwissenschaft der Universität Göttingen gesammelt wurden. Eine Hilfeleistung, die auch von Turnvereinen, wie dem Turnverein Blau-Gelb 90 aus Bad Düben, schon auf ähnliche Weise geleistet wurde und nicht nur zur Verbreitung des Gerätturnens beiträgt, sondern durch die Weitergabe auch ein Zeichen in puncto Nachhaltigkeit setzt. 
Ein weiterer wichtiger Schritt in der Zusammenarbeit mit Namibia betraf unter anderem die engagierten Studierenden der PH Ludwigsburg. So führten Studierende mit Trainer*innenlizenz über den Sommer ein mehrwöchiges Training in verschiedenen Turnclubs Namibias durch. 
 

Turnen in Namibia - ein Erfahrungsbericht

Im Sommer 2022 gab es das Angebot Turnclubs in Namibia als Trainerin oder Trainer zu unterstützen. So sind wir, Mia Wagner und Nikola Giek, für neun Wochen nach Namibia gereist und wussten nicht viel über das, was auf uns zu kommen würde. Ohne große Erwartungen, dafür umso größerer Vorfreude setzten wir uns in den Flieger und kamen nach langer Reise in Otjiwarongo an.

Otjiwarongo ist eine kleine Stadt nördlich der Hauptstadt Windhoek und die Heimat eines für deutsche Verhältnisse kleinen Turnvereins. Am ersten Trainingstag waren wir sehr gespannt, da wir keine Informationen zu den verschiedenen Turngruppen, sei es Anzahl oder Leistungsniveau der Kinder, Ausstattung der Halle oder Anzahl der Coaches, hatten.

Eigene Sporthalle in Otjiwarongo

Zu unserer Überraschung nutzt der Verein allein eine eigene "Sporthalle". In dieser angemieteten Messehalle, auf dem Sportgelände der Stadt, sind sämtliche Geräte dauerhaft aufgebaut. Diese waren auch durch die Bank weg neu. Uns wurde erklärt, dass die komplette Hallenausstattung vor der Corona-Pandemie angeschafft wurde. Leider beschränkte sich das nur auf die Geräte und es waren keinerlei Materialien, wie Springseile, Bälle oder ähnliches vorhanden, um sie mit ins Training einbinden zu können.

Finanzielle Mittel fehlen

Die verschiedenen Turngruppen trainieren alle zweimal die Woche zwischen Montag und Donnerstag, wobei eine Trainingseinheit häufig nur eine Stunde umfasst. Die Gruppen waren, ausgenommen der Anfängergruppe der Mädchen, klein und hatten alle einen eigenen Trainer. Der Verein war bis zur Pandemie deutlich größer, leider haben viele Kinder die Lust am Turnen über die Zeit des Lockdowns verloren und einige Familie haben schlichtweg nicht mehr die finanziellen Mittel, das Training zu bezahlen. 

Motivierte Kinder, unqualifizierte Trainer*innen

Die Kinder brauchten ein bisschen Zeit, um sich an uns als neue Trainer*innen zu gewöhnen. Sie fanden aber schnell Freude an dem abwechslungsreichen Training, da das Training sonst immer einem festen Schema folgt. Zum Beispiel wurde immer dieselbe Erwärmung gemacht. Die Kinder waren alle sehr motiviert und schätzten das Training. Die eigentlichen Trainerinnen und Trainer setzen sich aus engagierten Eltern oder ehemaligen Turnerinnen und Turnern zusammen. Diese besaßen aber keinen Trainerschein oder sonstige Qualifizierungen. Die Trainer*innen haben in ihr Training wenige allgemeine Übungen oder Vorübungen für die einzelnen Elemente eingebaut. Stattdessen wurden nur die vorgegebenen Übungen der unterschiedlichen Levels geübt. Diese Levels sind mit den P-Stufen in Deutschland vergleichbar.

Nächste Station: Swakopmud Gymnastics Club

Nach dreieinhalb Wochen wechselten wir Stadt und Verein. Die nächste Station war der Swakopmund Gymnastics Club.

Swakopmund macht mit der deutschen Architektur den Eindruck einer Stadt an der Ostsee. Sie gilt auch dank des anhaltenden deutschen Einflusses seit der Kolonialzeit als die Hochburg für Turnen in Namibia.

Wohnen durften wir bei einer der Initiatorinnen des Austausches: Valereis Geldenhuys. Sie ist die Pionierin des Turnsports in Namibia und langjährige Ehrenpräsidentin des Turnverbandes.

"The Dome"

– das modernste und größte Sportzentrum im südlichen Afrika

Das Training fand in Swakopmund im "The Dome" statt, dem modernsten und größten Zentrum für Sport im südlichen Afrika. In der großen Halle sind mehrere Vereine und Sportarten untergebracht: unter anderem Feld- und Inline-Hockey, Karate, Volleyball und Tischtennis.

Im Bereich für Turnen steht eine Vielzahl an Geräten, häufig in vielfacher Ausführung, dauerhaft aufgebaut. Das Alter und der Zustand der Geräte variierten allerdings zwischen einem komplett neu gespendetem Doppel-Mini-Trampolin und einem über 100 Jahre alten Pauschenpferd. Die Matten unter den Geräten sind meistens in einem alten und offensichtlich gebrauchten Zustand, wie die meisten Geräte, und erfüllen ihren Zweck oft nur ausreichend.

"Dongina Risser Gymnastics Foundation"

Die oben bereits erwähnte Stiftung "Dongina Risser Gymnastics Foundation" (https://www.drgf.org/), gegründet und geführt von einer Mutter und ihrer Tochter (Dongina und Dione), engagiert sich sehr für das Turnen in ganz Namibia.

Wir durften Dongina und Dione auch persönlich kennenlernen. Sie waren unsere wichtigsten Ansprechpartnerinnen während unseres Aufenthaltes vor Ort. Von ihnen durften wir viel über das Turnen, das Trainer*in sein und vor allem auch über die Menschen und die Kultur in Swakopmund und Namibia lernen.

Die namibischen Turnerinnen und Turner sind je nach Leistungsstand in unterschiedliche Gruppen eingeteilt und trainieren einmal bis fünfmal die Woche. Das Training unterscheidet sich deshalb in den einzelnen Gruppen sehr. Die Anfänger und Anfängerinnen trainieren die Grundlagen, während sich in den Leistungsgruppen die Turner und Turnerinnen auf internationale Wettkämpfe vorbereiten.

Der Verein kann sich vor neuen Anfragen kaum retten und hat dank der Zusammenarbeit mit der "Dongina Risser Gymnastics Foundation" viele Mitglieder. Ungefähr die Hälfte der Kinder kann nur mit der Unterstützung der Stiftung am Training teilnehmen. Die Stiftung übernimmt die Vereinsgebühren und organisiert den Transport ins Training und wieder nach Hause. Zudem werden die Kinder außerhalb des Sports mit Schulmaterial und einem Abendessen nach dem Training unterstützt. Auch "Container Houses", die zu Kindergärten, Schulen oder Wohnhäusern für die Kinder aus dem Turnen werden, sind ein Teil der Stiftung.

Dongina, die Gründerin der Stiftung, steht mit über 70 Jahren selbst noch jeden Tag in der Sporthalle und investiert zusammen mit ihrer Tochter Dione jede freie Minute für die Zukunft der Kinder. Neben den beiden sind noch weitere Trainerinnen und Trainer in der Halle, wobei sich diese aus ehemaligen oder noch aktiven Turnerinnen oder Turnern zusammensetzen. Des Weiteren kommen genau wie wir immer wieder Trainer*innen aus dem Ausland, um für einen kurzen Zeitraum mitzuhelfen. Grundsätzlich werden dort immer motivierte und qualifizierte Trainerinnen und Trainer gesucht, welche die Kinder auch für einen längeren Zeitraum fördern können.

"Straßenkinder" – ohne Förderung

Jeden Mittwoch gab es noch eine Besonderheit im Training, denn da kamen für anderthalb Stunden die "Straßenkinder" vorbei. Das waren Kinder, welche nicht über die Stiftung im Turnverein angemeldet sind und so auch keine Förderung bekommen. Aus diesem Grund wussten die Trainerinnen und Trainer auch wenig über die genauen Lebensumstände der Kinder. Es kamen auch nicht jede Woche dieselben Kinder und diese turnten auch nicht so wie die anderen Kinder und bekamen kein festes Training, sondern sie kamen eher zum freien Spiel und durften die Halle eben dazu nutzen, sich auszutoben und spielerisch die Geräte zu entdecken. Ein paar Mal durften wir auch dieses Training leiten, da es aber immer zeitgleich zu unserem eigentlichen Training mit den Turnerinnen des Vereins stattfand, konnten wir das nicht jede Woche übernehmen. Es hat uns aber sehr viel Spaß gemacht mit den Jungs zu arbeiten, da sie so viel Spaß in der Halle hatten und vor allem super kreativ waren, schnell lernten und sehr motiviert waren. Das Ziel der Trainerinnen und Trainer und der Stiftung besteht darin, den Kids die Sportart "Parkour" näherzubringen, da dies eine Sportart ist, welche viel Kreativität und sportliches Können erfordert und vor allem, was besonders wichtig ist, keine besonderen Sportgeräte wie im klassischen Gerätturnen, sondern auch mit "Alltagsgegenständen", wie einer Mauer, einer Stange oder ähnlichem funktioniert. So könnten die Kinder ihren Sport auch in ihrer Freizeit mit nur wenigen Mitteln betreiben. Dieses Projekt steht noch ganz am Anfang, aber ist, wie wir finden auch wieder eine sehr tolle Idee von Dione und Dongina bzw. der Stiftung. Als wir das Training mit den Jungs einmal leiteten, haben wir auch verschiedene Parcours mit den Jungs aufgebaut und nach einer Zeit wurden sie richtig kreativ und haben sich ihre eigenen Parcours aufgebaut und diese ständig umgestaltet und schwerer gemacht, ohne dass wir ihnen helfen mussten.

Deutschland vs. Namibia

Gerne möchten wir noch ein paar Unterschiede aufzeigen, die uns mit unserer Erfahrung als Turner*in/Trainer*in in Deutschland zu dem Training in Swakopmund oder Otjiwarongo aufgefallen sind.

Was uns als erstes sehr positiv aufgefallen ist, war, dass beide Hallen, die wir besuchen durften mit aufgebauten Geräten versehen waren. Bei uns allen ist es in den Vereinen üblich, dass das Training in Mehrzweckhallen stattfindet und die Geräte für jedes Training auf- und natürlich auch wieder abgebaut werden müssen, was immer viel Zeit in Anspruch nimmt. In Deutschland gibt es eher vereinzelt, meist an den Leistungsstützpunkten, fest aufgebaute Hallen.

Alle Niveaus vertreten

Gerade in Swakopmund waren in der Halle alle Niveaus vertreten. Vom Kinderturnen, mit dem primären Ziel, Spaß an der Bewegung zu haben bis hin zu Turnerinnen und Turnern, mit dem Ziel, an Olympischen Spielen teilzunehmen.

Dadurch, dass es in Deutschland eine viel größere Turngemeinschaft und natürlich auch viel mehr verfügbare Mittel gibt, wird bei uns viel stärker nach Leistung separiert. Wenn die Teilnahme an den Olympischen Spielen dein Ziel ist, wirst du nicht lange in deinem Dorfverein trainieren, sondern ziemlich schnell in einem Leistungszentrum und nur Turnerinnen oder Turner mit vergleichbarem Niveau neben dir haben.

Oft waren Turnerinnen und Turner aber bei Wettkämpfen die Einzigen in ihrer Leistungsklasse und bekamen so fast nie die Gelegenheit, sich mit anderen Konkurrentinnen oder Konkurrenten zu messen. Das ist sehr schade und kann auch sehr demotivierend sein. Hinzu kommt, dass es teilweise gerade für diese Kinder und Jugendliche zu wenige Trainerinnen und Trainer gibt und sie sich selbst trainieren müssen. So stoßen sie oft an ihre eigenen Grenzen, was Vorübungen, Hilfestellungen und Tipps angeht.

Die Wettkämpfe

Ein weiterer Unterschied sind die Wettkämpfe. Dadurch, dass Namibia ein so großes Land mit im Verhältnis so wenigen Menschen ist, fährt man für Wettkämpfe auch schon mal 3 bis 4 Stunden und das oft auch auf Kinderturn-Niveau.

Hallensprachen: Deutsch, Afrikaans und Englisch

In der Halle trainieren Kinder mit den verschiedensten Hintergründen. Nicht nur was die finanzielle Situation der Eltern angeht, sondern auch die Sprache. Manche der Kinder sprechen Deutsch, viele Afrikaans und die allermeisten Englisch. Viele sprechen alle drei Sprachen – ebenso die Trainer*innen. Die Verständigung unter den Kindern oder mit den Kindern und Trainer*innen war daher nie ein Problem. Im Training wird mit den Trainer*innen aber zu 90 Prozent Englisch geredet, da das eigentlich alle Kinder beherrschen.  Allgemein wird großen Wert darauf gelegt, dass alle Kinder vorrangig Turner*innen sind und es keinerlei Unterscheidung in schwarz/weiß, arm/reich, Deutsch/Afrikaans/… gibt.

Allgemein war es teilweise sehr schade für uns mitanzusehen, wie extrem talentierte Kinder oder Jugendliche nicht zu hundert Prozent die Förderung bekommen, welche sie verdient hätten. Die Trainer*innen stecken alles was sie können in die Stiftung, setzen alle Hebel in Bewegung und tun alles in ihrer Macht stehende, um den Kindern möglichst viele Chancen zu ermöglichen, aber das ist in Namibia einfach nicht so leicht wie es in Deutschland wäre. 

Zum Schluss bleibt uns nur zu sagen, dass wir jedem ans Herz legen möchte, sich die Dongina Risser Stiftung anzuschauen (https://www.drgf.org/) und vielleicht, gerade wenn man Mitglied in einem Verein ist, sich zu überlegen privat oder über den Verein eine Patenschaft für eines der Kinder zu übernehmen. Sponsoren werden immer gesucht und es eröffnet den Kindern und Jugendlichen nicht nur die Möglichkeit ein sinnvolles Hobby auszuüben, sondern auch ihnen eine bessere oder überhaupt eine Bildung zu ermöglichen.

Große Turnfamilie – liebevoller Umgang

Es war unglaublich inspirierend zu sehen mit wie viel Engagement und Liebe die Trainer*innen jeden Tag in die Halle kommen und sich für jedes Kind Zeit nehmen. Die Kinder wissen diesen Einsatz zu schätzen und danken es den Trainer*innen mit Motivation und Hingabe im Training. Der liebevolle Umgang miteinander geht weit über die normale Vereinsarbeit hinaus und lässt sich nur als eine große Turnfamilie beschreiben. 

Wir sind unbeschreiblich dankbar für diese Erfahrungen. Wir durften so viele herzliche, liebevolle und nette Menschen kennenlernen und die wunderschöne Natur Namibias sehen und erleben.

AUSGABE           International 03-2023 | Einblicke | Sportstudierende auf internationaler Mission
AUTOR*INNEN   Nikola Giek, Mia Wagner, Prof. Dr. Annette R. Hofmann