Das Grüne Buch | Bildquelle: Marion Thomas
Einblicke

Schatztruhe der Turnstatistik

Das legendäre Grüne Buch des Frank Thomas

In der Welt des Turnens gibt es ein Artefakt, das nicht nur unter Sportjournalistinnen und Sportjournalisten als wahre Legende gehandelt wird – das sogenannte "Grüne Buch" des ehemaligen dpa-Reporters Frank Thomas.

Obwohl eigentlich eine eher unscheinbare, mit grüner Folie bezogene und mit vielen turnbezogenen Aufklebern bestückte Sammlung von handgeschriebenen Seiten, birgt es dennoch einen wahren Schatz an Sportstatistiken. Zahlen und Namen, welche die Geschichte und Entwicklung dieser faszinierenden Sportart auf einzigartige Weise widerspiegeln.

Frank Thomas mit dem sogenannten "Grünen Buch", Foto: Marion Thomas

Wer ist denn hier der Weltmeister?

Thomas, der von 2004 bis zu den Europameisterschaften 2019 in Szczecin (POL) für die Deutsche Presse-Agentur (dpa) das Turnen begleitete, versetzte es wegen seiner speziellen Systematik in die Lage, Erfolge binnen Sekunden einzuordnen. Während andere noch fleißig (und zumeist mit mäßigem Erfolg) im Internet googelten, wusste der bekennende Union-Berlin-Fan aus dem brandenburgischen Woltersdorf binnen Sekunden, beispielsweise einen Titel als den zwölften eines Athleten oder den ersten am Reck seit 1956 zu benennen. 

"Ich bin 1987 in die Sportredaktion des ADN, des Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienstes, gekommen. Dort habe ich mich bereits ein wenig in der Sportart Turnen bewegt, wenngleich anfangs nur auf nationalem Parkett. So durfte ich mehrfach nach Cottbus fahren. Das war damals natürlich noch kein Weltcup, sondern einfach nur das Turnier der Meister. Damit ich wenigstens wusste, wer denn hier der Europameister und wer der Weltmeister ist, kam mir die Idee, dieses Buch anzulegen", erinnert er sich an seine Zeit in der Nachrichtenagentur der DDR.

Und da er nun einmal ein Mensch sei, der nur ungern halbe Sachen mache, habe er seine Statistiken von den Anfängen der Turnerei an eingetragen. Das zweigeteilte Deutschland und die entsprechenden Anforderungen des ADN stellten Thomas‘ Statistiken dabei natürlich vor einige Herausforderungen. Seine Lösung war so einfach wie genial. "Das Besondere war, dass ich anfangs nur die DDR-Turnerinnen und Turner immer in Rot geschrieben habe. Deswegen erkennt man die im Buch besonders prägnant. Die leuchten ja dann immer so hervor", erzählt er.

Die Erfolge des Westens hätten damals für seine Texte noch keine Rolle gespielt.

Auch die Erfolge des Westens im Blick

Dennoch sei es für ihn wichtig gewesen, auch diese im Blick zu haben. "Damit ich auch mal sagen konnte, das ist der erste deutsche Weltmeister seit so und so viel Jahren", erklärt er. Denn ob jemand der erste Europameister oder gar der erste deutsche Europameister gewesen sei, habe man immer schön auseinanderhalten müssen. "Deswegen habe ich die bundesdeutschen Erfolge immer schwarz eingetragen und die der DDR-Turner rot", verrät er.

Nach der Wende galt die Farbe Rot dann für alle deutschen Athletinnen und Athleten. Alle anderen Titelträger*innen und Medaillengewinner*innen seien blau gewesen. Aus heutiger Sicht komme ihm das natürlich lustig vor, immer habe er drei verschiedenfarbige Kugelschreiber mit auf seine Reisen nehmen müssen. "Aber damals zählten eben nur die Roten", sagt er.

Tulum-Grün

Die Farbe, die Frank Thomas für den Umschlag seines Werkes wählte, war dagegen grün. "Tulum-Grün", wie es eine einschlägige Farbtabelle ausweist. Man könnte nun denken, dass dieser Ton symbolisch für die Hoffnung des Sportlers oder der Sportlerin auf den Erfolg steht. Oder vielleicht für die Farbe eines Baumes, der seine Zweige gen Himmel streckt. So wie das Turnen, das sich über zwei Jahrhunderte hinweg in unzähligen Variationen ausgedehnt und weiterentwickelt hat.

"Weit gefehlt", lacht Thomas und liefert eine völlig unromantische Erklärung: "Das war reiner Zufall. Das war ein alter Schulbuchumschlag, der hier irgendwo noch rumlag."

Das Grüne Buch habe aber noch "Schwestern", verrät er. Die für den Kanusport sei gelb gewesen, das für Volleyball braun, sagt er. An die Farbe des Leichtathletikbuches, für das er aufgrund der zahlreichen Disziplinen das DIN A4 Format wählte, kann sich Thomas nicht mehr genau erinnern. Er machte es zum Geschenk für einen Kollegen, als sich abzeichnete, dass er sich nicht mehr beruflich der Leichtathletik zuwenden würde.

Seiner Zeit voraus

Seiner Zeit war der dpa-Journalist schon damals ein Stück voraus. Denn die schnelle Präsentation von Statistiken nimmt in der heutigen medialen Welt eine unverzichtbare Rolle ein. Sie ist der Taktstock, mit dem Print- und Onlinemedien ebenso wie die TV- und Radiosender das Spiel der Athletinnen und Athleten dirigieren. Und so auch die Geschichten von deren Erfolgen und Niederlagen komponieren. 

Mit kritischem Auge nimmt Thomas jedoch wahr, dass viele Kollegen es dabei nicht mehr so genau mit den Details zu nehmen scheinen. Besonders wenn er wieder irgendwo von einer "mehrfachen Weltmeisterin" gelesen habe. "Eine solche Zahl, oder die Erstmaligkeit, oder wie oft oder wie viele Jahre es keinen Titel oder keine Medaille mehr gegeben hat, das alles ist für mich ein Mindeststandard. Das gehört zum Pflichtprogramm", betont er. 

Doch offenbar sei gerade das oftmals heute nicht so gefragt. Nicht alle Journalistinnen und Journalisten hielten es bei steigendem Arbeitsdruck und sinkenden Honoraren für notwendig, so akribisch zu arbeiten. "Die Oberflächlichkeit hat auch dort einen größeren Raum gewonnen", glaubt Thomas. Er selbst habe Zahlen früher als Selbstverständlichkeit betrachtet. "Ich dachte, man muss sowas wissen, wenn man zu Weltmeisterschaften, Europameisterschaften oder Olympischen Spielen fährt. Aber das ist gar nicht so", räumt er heute ein. So habe ihm eine ehemalige Kollegin gesagt: "Ach, du immer mit deiner Statistik. Die spielt für mich keine Rolle. Ich schreibe schöne Texte. Ich brauche solche Zahlen nicht."

Der beste Diebstahlschutz

Dies, sagt Thomas, sei heute keine untypische Ansicht. "Schöne Texte... Aber es gibt doch Fakten. Und an denen willst Du doch nicht vorbei?", fragt er. Von seinem anachronistischen Nachschlagewerk konnten ihn solche Ansichten jedenfalls nicht abbringen. Über 30 Jahre hielt er handschriftlich alle weiteren Erfolge deutscher Turnerinnen und Turner fest. "Ich hatte das nun einmal so händisch angefangen und fortgeführt. Auch, als es schon längst Computer gab und man das alles digital und mit Excel-Tabellen hätte machen können. Aber damals, in den 80er Jahren, hatten die natürlich noch überhaupt keine Rolle gespielt", sagt er. So habe er eben immer darauf geachtet, dass die Informationen nicht zu groß und breit geworden seien. "Damit das Buch nicht zu dick wird, habe ich immer ziemlich klein geschrieben. Sehr klein. So kann das kaum jemand lesen außer mir selbst. Das ist der beste Diebstahlschutz", sagt er mit einem Grinsen.

Für den Betrachter und die Betrachterin liegt der große Reiz des Grünen Buches in seinem physischen Charakter. In einer Ära digitaler Daten und Algorithmen wirkt es wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Mit jeder umgeblätterten Seite spürt man die Zeit, die in den auf kleinsten Raum penibel niedergeschriebenen Ergebnissen und Zahlen steckt. Es ist beinahe so, als würde man die Vergangenheit selbst berühren, wenn man über die Jahrzehnte hinwegblättert und die Medaillen längst vergangener Helden und Heldinnen entdeckt. Immer wieder ist Thomas im Laufe seiner Karriere auf dieses Buch angesprochen worden. Der ein oder andere hätte das Werk auch gerne übernommen, als er sich in die Rente verabschiedete. Doch Thomas lehnte ab. Das Buch, sagt er, habe er aber nur für sich selbst gemacht. Und da sich wohl kaum ein Museum dafür interessieren werde, solle es auch in der Familie bleiben. Selbst wenn es dort vermutlich keinen interessieren werde.

 

"Ich befürchte, dass meine Kinder oder Enkel nicht zu schätzen wissen, was da für Arbeit drinsteckt", sagt der 66-Jährige.

Der Mann mit dem Grünen Buch

Und dennoch hat das mittlerweile von Heftklammern zusammengehaltene Statistikwerk auch seinem Ersteller viele schönen Momente beschert. "Der Schönste war, als ein Kollege von einer großen italienischen Sportzeitung, der bei den Olympischen Spielen 2004 in Athen neben mir saß, eine Geschichte darüber geschrieben hat", erzählt er. Fabian Hambüchen habe damals gerade seine ersten Spiele absolviert. Den Italiener amüsierte es, den akribischen Deutschen mit seinem handgeschriebenen Buch aus dem vergangenen Jahrhundert zu beobachten, der ihm aber immer in Windeseile sagen konnte, wer was wann zuletzt gewonnen hatte. "Der Mann mit dem Grünen Buch" betitelte der Italiener daraufhin seinen Artikel. Es war das erste Mal, dass es Thomas‘ Buch bis in die Medien schaffte.

Geht es um die mediale Zukunft des Turnens, schlägt Thomas eher nachdenkliche Töne an. "Wir können natürlich nicht ermessen, was das Turnen den Japanern oder Chinesen bedeutet. Wir können immer nur ermessen, was es in Deutschland für eine Bedeutung hat. Aber es bräuchte bald wieder so einen Typen wie Fabian Hambüchen, der die Leute anzieht und gleichzeitig noch Top-Leistungen bringt. So ein Wunderkind sehe ich allerdings nicht", sagt er und blickt auch auf Hambüchens "Vorgänger" Andreas Wecker zurück. "Der wurde ja damals auch immer durch die Medien sehr hofiert und hochgeschrieben. Und er hat es in mancher Beziehung ja verdient, auch sportlich", findet Thomas.

Bei den beiden habe es sich aber um Ausnahmekönner gehandelt, die man so schnell nicht wieder herbeizaubern könne. "Viele Weltmeister oder Medaillengewinner sind heute nach zwei, drei Jahren wieder weg vom Fenster. Dann spricht wieder kaum noch jemand von ihnen. Aber genau so einer wäre in dieser Sportart eigentlich gerade nötig, die nicht so im Rampenlicht steht", ist er überzeugt. "Du brauchst jemanden, den du über Jahre transportieren, entwickeln, beschreiben kannst. Der sich auch gegenüber den Medien öffnet. Einen, der sich nicht nur in seiner Turnerei verkraucht, sondern eben auch immer ansprechbar ist", sagt Thomas.

Fabian Hambüchen habe er damals genau so erlebt. Der sei wirklich immer bereit gewesen, mit einem zu sprechen. Der habe sich auch nie versteckt. "Selbst wenn es schwierig war. Auch wenn die Handynummer nicht leicht zu kriegen war, über den Vater oder seinen Manager hat man immer eine Möglichkeit gehabt, mit ihm Kontakt aufzunehmen", betont er. Dass es einen Sympathie- und Hoffnungsträger wie Hambüchen in naher Zukunft noch einmal geben wird, mag der erfahrene Nachrichtenmann nicht so recht glauben. "Es wäre wünschenswert. Aber ich glaube es einfach nicht. Und ich will das überhaupt nicht vom Sportlichen her beurteilen, sondern lediglich vom Medialen."

Doch auch im legendären Grünen Buch werden die Erfolge von Wecker und Hambüchen langsam, aber sicher, verblassen. Zwei Namen zwischen tausenden von handgeschriebenen Einträgen eines Sportreporters, die von der Hingabe und Leidenschaft all derer zeugen, die ihre Jugend dem Turnen auf höchstem Niveau verschrieben haben. Die scheinbar endlosen Zahlenkolonnen jedoch werden weiter die Herzen der Statistik-Liebhaber höherschlagen lassen. Und dabei gleichzeitig das Porträt einer Sportart zeichnen, die mit jeder erreichten Höchstleistung ihren Platz als olympische Kernsportart in der Sportgeschichte behauptet.

Mehr als ein bloßes Sammelsurium

Das Grüne Buch des Frank Thomas ist somit mehr als nur ein bloßes Sammelsurium von sportlichen Fakten. Seine Namen und Zahlen erzählen auch von den Träumen, die in den Hallen zum Leben erwachten. Von den unzähligen Stunden des Trainings und den Opfern, die die Athletinnen und Athleten erbrachten, um Bestleistungen abzurufen. Es ist ein Manifest der Beharrlichkeit und der unbändigen Energie, die aus jeder Turnübung auf 90 Sekunden komprimiert widerhallt. Ein haptisches Juwel, das für den Betrachter den Zauber der Vergangenheit einfängt und ihn einlädt, diese unvergesslichen Momente immer wieder zu erleben.

Am Ende ist es eine Hommage an das Turnen selbst. Ein Erbstück der Hingabe und ein Vermächtnis für zukünftige Journalisten-Generationen, dass Zahlen und Namen gerade doch das Fundament eines jeden Sports darstellen.

AUSGABE         Medien 04-2023 | Einblicke | Schatztruhe der Turnstatistik
AUTOR              Nils B. Bohl