Philipp Sohmer bei den Olympischen Spielen in Rio | Bildquelle: Privat
Einblicke

TV-Experte Philipp Sohmer über Zukunft des Turnsports

Plötzlich Turnreporter

Eigentlich, erzählt Philipp Sohmer, sei ihm die Rolle des Turn-Reporters bei der ARD ziemlich plötzlich zugefallen. "Wir brauchten relativ schnell einen Kommentator für die Weltmeisterschaft 2007. Weil der, der es bisher gemacht hatte, weggegangen war", erinnert er sich. Beim SWR überlegte man vor der nahenden Heim-WM in Stuttgart und einem möglichen Titelgewinn von Turn-Star Fabian Hambüchen daher nicht lange. "Du hast das doch schon mal gemacht", hieß es, als der Sender den lange im Motorsport beheimateten Sohmer ins Rennen schickte. "Ich wurde mit dieser Aufgabe betraut. Tatsächlich musste ich aber wahnsinnig viel arbeiten, weil ich eben nicht aus dem Turnen komme", erinnert er sich. 

Doch Sohmer hatte Glück. Denn in Niklas Schenck, einem damaligen Zweitligaturner, machte genau der richtige Mann gerade ein Praktikum in der Stuttgarter Redaktion. "Mit ihm habe ich dann wirklich nächtelang Übungen angeschaut. Ich habe mich da reingearbeitet", erzählt Sohmer. Mit der Zahl der nächtlichen Sitzungen sei auch seine Faszination fürs Turnen, die er ohnehin schon gehabt habe, immer weitergewachsen. "Das war wie ein Sechser im Lotto. Dieser Sport ist einfach fantastisch", findet er nun.

Highlight Olympiasieg von Hambüchen

Nach 16 Jahren als Turn-Reporter ist seine Leidenschaft fürs Turnen ungebrochen. Damit steht er nicht alleine. "Fast fünf Millionen Mitglieder hat der Deutsche Turner-Bund. Und es gibt auch immer großes Zuschauerinteresse, vor allem bei Olympischen Spielen. Da kann man darauf bauen, dass bei uns in der ARD und auch im ZDF, die Turnübertragungen immer mit die erfolgreichsten sind", betont er. Turnen gehöre einfach zu den Highlights, die das Publikum gerne anschaue. "Wir hatten beispielsweise 2016 beim Olympiasieg von Fabian Hambüchen, den ich übertragen durfte, acht Millionen Zuschauer. Ich glaube, nur die Eröffnungsfeier hatte damals noch mehr Zuschauer", erklärt er.

Auch für Sohmer, der nach ersten Radioerfahrungen im Studium und beim SWR recht schnell in den Fernsehsport wechselte, sind die Erlebnisse bei vier Olympischen Spielen unvergesslich. Er verrät:

Turnen ist ein so unfassbar spektakulärer Sport. Auch für mich gibt es nichts Besseres als bei Olympia ein Finale übertragen zu dürfen.
 

Zukunft Groß-Events?

Warum die Woge der Begeisterung zwischen den Spielen beim Publikum regelmäßig abebbt, weiß auch Sohmer nicht so genau. "Klar, auch wir haben uns diese Frage schon gestellt. Denn wenn man ein normales Turn-Event überträgt, das einfach allein am Sonntagnachmittag im Programm steht, sind die Quoten eher überschaubar. Da tut man sich schwer, eine Million Zuschauer zu gewinnen. Selbst wenn es eine Welt- oder Europameisterschaft ist", weiß er. 

Doch die Fernsehmacher haben bei ihrer Analyse ein wichtiges Detail erkannt: "Was ganz klar sichtbar wurde, ist, dass Groß-Events wie zum Beispiel Olympia immer wahnsinnig gut funktionieren", sagt er.

Genau das sei nun auch die Idee hinter den European Championships oder den Finals. Ein Groß-Event, bei dem die Zuschauer und Zuschauerinnen ganz viele Sportarten an einem Tag sehen können. "Und da funktioniert alles viel besser. Egal bei welchem Sport. Selbst Sportarten, die alleine nicht gut funktionieren, haben oder finden dort ein großes Publikum", lautet Sohmers Erkenntnis. 
 

Härteste Sportart der Welt

Dass Turnen daher eine Chance hat, auch langfristig in der modernen Medien- und Sportwelt zu überleben, davon ist der TV-Experte überzeugt. "Man könnte argumentieren, dass Turnen die schönste Sportart der Welt ist. Die Akrobatik, die Athletik, der Anmut, der sich da bündelt, das ist glaube ich selten irgendwo parallel anzutreffen", findet er. Und dabei sei es wahrscheinlich gleichzeitig die härteste Sportart der Welt. "Du strebst in einer Übung nach etwa 60 Sekunden Perfektion und musst dafür unglaublich hart arbeiten", hat Sohmer gelernt. "Definitiv auf der Haben-Seite des Turnens sind diese unglaublich schönen und dynamischen Bewegungen", glaubt Sohmer.

Die Zukunftsfähigkeit des Turnsports lässt sich nach seiner Ansicht besonders in den sozialen Medien ablesen. "Man muss sich nur die Followerzahlen unserer Top-Athletinnen anschauen. Emma Malewski über 100.000 bei TikTok, bei Instagram an die 100.000 bei Elisabeth Seitz oder Pauline Schäfer-Betz", führt er an. Und auch die eigenen Zahlen der ARD untermauern diese Zahlen. "Also Das Publikum ist vorhanden, auch unter den Jüngeren. Und deshalb ist mir da eigentlich gar nicht bange. Wenn wir in den sozialen Medien oder online Dinge posten, treffen sie auf ein durchaus interessiertes und auch größeres Publikum", bestätigt er.

Mündige Athletinnen und Athleten

Doch der Glanz des Turnsports war und ist nicht immer ungetrübt. Die Image-Schäden aus grauer Vergangenheit, als kleine, gedrillte und angeblich schon 15 Jahre alte Mädchen aus bestimmten Nationen auf die Fläche geschickt wurden, hat das Turnen nach Sohmers Ansicht zwar überwunden, neue Sorgen sind jedoch hinzugekommen. "Die furchtbaren Geschichten aus den USA, die in den letzten Jahren zu Tage getreten sind, machen sprachlos. Auch die Missstände, die in Deutschland und anderen Ländern publik gemacht wurden, sind auf der dunklen Seite des Turnsports anzusiedeln", räumt er ein.

Doch die Reaktion der Verbände auf diese neuerliche Bedrohung, lässt Sohmer hoffen. "Ich sehe tatsächlich eine große Entwicklung und ein Erkennen auf allen Seiten. Und an vielen Stellen auch ein Gegensteuern", beschreibt er seine Wahrnehmung. Vor allem träfe er inzwischen sehr viele mündige Athleten und Athletinnen, die genau wüssten, was sie wollten. Die schlau seien und sich ihren eigenen Weg suchten. "Das ist dann manchmal schon ein Zurechtruckeln, dass da noch passieren muss. Auch und gerade mit den Trainern und Trainerinnen. Aber ich denke, das funktioniert immer besser. Und das ist, so nehme ich es zumindest wahr, eine gesunde Entwicklung."
 

Künstliche Intelligenz im Turnen?

Doch nicht nur dort spürt Sohmer Wandel. "Ich sehe auch, dass sich im Turnen langsam Dinge verändern, vielfach transparenter werden", sagt er. Denn die Komplexität des Turnens ist für den Zuschauer oft kaum zu erfassen, das Zustandekommen der Wertungen schwer nachzuvollziehen. Da passiere derzeit einiges an vielen Stellen. "Und wer weiß, vielleicht haben wir bald eine künstliche Intelligenz. Ein System, dass die Schwierigkeitswerte beherrscht und somit vielleicht Wertungen schneller transportieren kann und den Sport so verständlicher für den Zuschauer macht", hofft er.  Das sei eine der Aufgaben, die noch zu bewältigen sei. "Gerade im Fernsehen, um es für das Publikum vielleicht nochmal nachvollziehbarer zu machen. Aber ich bin überzeugt, da wird sich noch einiges tun in den nächsten Jahren."

Athletinnen und Athleten noch greifbarer machen

Auf die Frage, was er als Erstes tun würde, müsste er das Turnen retten und in eine gute Zukunft führen, muss auch Sohmer ein wenig nachdenken. "Ich glaube, das Turnen muss man gar nicht retten", sagt er dann. Das funktioniere bereits auch so.

Für viel spannender hält er dagegen die Frage, wie man Turnen noch populärer und größer machen könnte. "Dann würde ich glaube ich gar nicht bei den vorhin angesprochenen Bewertungen anfangen. Ich würde zuerst bei den Sportlern anfangen", lautet sein Ansatz. Denen würde Sohmer eine viel größere Bühne geben. Deshalb plant die ARD gerade ein Filmprojekt, das die Faszination des Turnens und die spannenden Geschichten der Athletinnen und Athleten in den Mittelpunkt stellt. "Wir wollen zeigen, welche Arbeit, welche Leidenschaft und welche Entbehrungen hinter den Leistungen stehen, die wir bei den Olympischen Spielen in Paris wieder sehen werden."

Sohmers Wunsch: "Die Athletinnen und Athleten müssen greifbarer fürs Publikum werden."

Ich erinnere mich noch an Marcel Nguyen, der am Anfang noch sein Tattoo abschminken musste. Oder zumindest abgeschminkt hat, weil er Angst hatte, dass er da sanktioniert wird. Jetzt dürfen die Sportler ja ihre Persönlichkeit zeigen. Und sollen sie sogar eher zeigen. Und ich glaube, das ist der richtige Weg.

 

Davon ist der TV-Mann überzeugt. Sportler seien attraktiv für das Publikum, darin liegt nach Sohmers Ansicht ein sehr großes Potenzial.

"Und da geht es jetzt nicht um das Aussehen. Sportler sind einfach interessante Menschen. Und sie machen tolle Sachen. Wie die Turnerinnen des deutschen Frauen-Teams gezeigt haben mit ihrem Auftreten etwa in den Ganzkörperanzügen. Dafür haben sie ja auch die Flatow-Medaille bekommen, für dieses Zeichen der Selbstbestimmung. Es ist für mich beeindruckend, wie diese Athletinnen ihren Weg gehen und wie sie ihren Sport repräsentieren."

AUSGABE         Medien 04-2023 | Einblicke | Plötzlich Turnreporter
AUTOR              Nils B. Bohl