Marie-Sophie Boggasch vor ihrem Flugzeug | Bildquelle: Privat
Einblicke

U-Turn in Alaska

Fliegen und Trainieren auf 61°11′24″ Nord, 149°49′37″ West

Wie Pauline Tratz hat auch Marie-Sophie Boggasch über ein Stipendium den Weg in die USA gefunden. Im Gegensatz zu ihrer früheren Teamgefährtin ist sie aber in den USA geblieben. Sie wohnt in einem geräumigen Haus samt Garten in Anchorage im Süden Alaskas. "Unser Mitbewohner hat gerade geheiratet. Jetzt brauchen wir einen neuen Mitbewohner, damit wir nicht umziehen müssen", lacht sie gut gelaunt.

Boggasch selbst hat vor drei Jahren Tomo, einen Amerikaner aus Chicago, geheiratet. Deutschland besucht die 27-Jährige nur noch zweimal pro Jahr, dahin zurückzukehren kann sie sich im Moment nur sehr schwer vorstellen. 

Natur pur

"Ich glaube es ist die Natur. Du hast hier Berge, du hast Ozean, du hast Wasser, du hast Wildtiere. Man kann hier so viele Sachen machen", versucht sie zu erklären, was sie in ihrer neuen Heimat festhält. Dort lebt Boggasch ihren ganz persönlichen "Alaska Dream". Motocross, Paddleboarden oder Wildwasser fahren? Kein Problem. "Wir besitzen auch Kayaks und Schneemobile. Und in unserem Garten gibt es zwei Elch-Familien.

Das Abenteuer Alaska ist in meinem Lifestyle eigentlich jeden Tag präsent", sagt sie. Natürlich könne man solche Sachen auch woanders haben. "Aber hier kannst Du 30 Minuten irgendwo hinfahren und sofort mit dem Motocross anfangen. Und Du musst Dich nicht erst irgendwie anmelden. Oder erst mal einen Waffenschein beantragen, wenn du deine Axt durch den Garten werfen willst", beschreibt sie das Plus an Freiheit, das Alaska bietet.

Beste weibliche Axtwerferin der Welt

Professionelles Axt-Werfen ist nämlich die neue Passion der früheren Turnerin aus der Kunstturn Region Karlsruhe.

"In der World Axe Throwing League bin ich eine, wenn nicht die beste weibliche Axtwerferin der Welt. Das klingt irgendwie verrückt, jetzt, wo ich darüber rede", sagt sie.

Im Keller hängt ebenso eine Zielscheibe, wie im Garten. Die beiden Katzen Naala und Simba gehen da lieber schon vorsorglich in Deckung. 

Von Karlsruhe nach Alaska

Nach zwei Jahren in der Bundesliga mit der Kunstturn Region Karlsruhe und einem "Express-Abitur" (1,0) am Karlsruher Otto-Hahn-Gymnasium nach nur sieben Jahren, wollte sie eigentlich erst einmal ein Jahr Pause machen. "So wie viele andere eben auch. Meine Trainerin Tatjana Bachmayer fand aber, dass ich mich lieber für ein Sportstipendium in den USA bewerben sollte", erzählt sie.

Neben anderen Angeboten habe sie dann auch das der University of Alaska gefunden. "Mein erster Gedanke war: wo ist das denn genau? Man weiß ja schon, USA, Alaska, irgendwo da oben. Aber nach dem genauen Blick auf die Karte fand ich es dann irgendwie toll. Ich glaube, dass nicht jeder irgendwann nach Alaska kommt", dachte Boggasch sich. Sie skypte einige Male mit dem Uni-Coach, es passte und der Entschluss stand fest.

Traumstudium im Aviation Complex

"Dort bin ich dann ein paar Mal mit dem Bus an einem großen Uni-Gebäude vorbeigefahren, dem Aviation Complex. Ich hatte nicht wirklich alle Studiengänge der Uni gelesen und so war ich überrascht, dass man hier auch Pilot werden kann", erinnert sich Boggasch. Gesagt, getan. Es folgten Theoriekurse, Privatpilotenschein, Instrumentenflugberechtigung, Commercial Pilot und schließlich der Fluglehrer.

Ein Selbstläufer, denn Fliegen wollte Boggasch eigentlich schon immer. Schon mit vier Jahren hatte ihr Berufswunsch festgestanden: Astronautin wollte sie werden. Mangels Plätzen für Minderjährige im NASA Space Program, hatten die Eltern die Tochter jedoch lieber zunächst zum TSV Hof, später dann zum TSV Unterföhring gebracht, um die dortigen Sprungtische zu überfliegen.

Traumjob Pilotin

Nach ihrem Bachelorabschluss an der University of Alaska flog Boggasch fast vierJahre für Regal Air. Die Airline ist seit über 33 Jahren das führende Unternehmen für Flugreisen und Bärenbeobachtungen in Alaska und besitzt auch sehr viele Wasserflugzeuge. "Ich habe mich bei meiner Traumfirma im Fliegen beworben, nachdem ich fertig war. Und ich habe den Job sofort bekommen. Obwohl ich eigentlich einer der weniger qualifizierten Leute dafür war", sagt sie.

Doch das Fliegen im unwirtlichen Norden habe einige Dinge mit sich gebracht, die sie so nicht erwartet habe.

"Ich weiß nicht aus welchem Grund, warum das so geballt passieren musste. Aber ich war auf zu vielen Beerdigungen in zu kurzer Zeit, als dass ich das weiterverfolgen wollte", erzählt Boggasch. Sie selbst kenne niemanden, der in so kurzer Zeit so viele enge Bezugspersonen und Freunde bei Flugabstürzen verloren habe. Und dann sei auch noch einer ihrer besten Freunde bei einem Lawinenabgang ums Leben gekommen.

"Natürlich gibt es dieses omnipräsente Risiko in Alaska. Und es gibt auch Leute, die schon sehr lange im Geschäft sind und daher leider auf noch mehr Beerdigungen als ich waren. Aber bei mir war es einfach so geballt", sagt sie.

Kursänderung

Nachdem ihr mehr und mehr bewusst geworden sei, dass sie weiterhin solche Verluste nicht einfach so wegstecken oder verkraften könne, habe sie sich parallel um einen Masterstudiengang an der Universität gekümmert.

"Mein Flugjob war immer sehr sommerorientiert. Die erste Idee war, dass ich im Winter meinen Master mache und im Sommer wieder fliege. So folgte Boggasch auch 2019 weiter ihrem Traum, flog weiter durch die einsame Wildnis. Als sich ihr aber plötzlich die Option bot, auch nach ihrem Masterabschluss noch weiter mit dem Turn-Team verbunden zu bleiben, änderte sie ihren Kurs.

"Ich habe eine Entscheidung für mich selbst getroffen", sagt sie.

Als Trainerin zurück ins Team?

Erst einmal sei die Idee gewesen, als Co-Trainerin ins Team zurückzukehren. Doch dann habe sich die Cheftrainerin 2020 entschieden, in ihre Heimatstadt zurückzukehren. "Ich habe mir gesagt, nach zwei Jahren als Assistentin könnte ich doch eigentlich Cheftrainerin werden und habe mich beworben", erzählt sie. Die Universität stellte sie prompt ein. "Allerdings habe ich später herausgefunden, dass da auch ein großer Haken dran war. Denn das zuständige Athletic Department und die Universität hatten aufgrund von Budget-Einschränkungen eigentlich andere Pläne. Sie wollten das Team streichen, weil ein dynamischer Vertrag zwischen Government und Universität die Zuschüsse immer weiter einschränkte", sagt sie.

Doch Boggasch wollte diesen Plan nicht akzeptieren. Sie rief zum Spendenmarathon auf, sprach mit Senatoren und Abgeordneten, setzte Himmel und Hölle in Bewegung. "Ich war die Erste, die gespendet hat. Ich habe ein Jahr lang praktisch umsonst gearbeitet. Ich habe fast alles, was ich verdient habe, wieder an die Uni zurückgegeben. Ich habe nur das behalten, was ich zum Überleben brauchte", erinnert sie sich.

Harter Kampf um die Seawolves

Insgesamt 888.000 US-Dollar sammelte sie für den Erhalt der Seawolves, ihrer ehemaligen Uni-Mannschaft.

"Wir haben jetzt auch als Staat wieder mehr Geld. Ich habe sehr darauf bestanden, dass die Universität die Wiederaufnahme als dauerhaft einstuft. Und das schriftlich", sagt sie. Weil Boggasch und ihre Mitstreiter*innen mit ihrer Fundraising-Kampagne sogar über das Ziel hinausschossen, war am Ende sogar noch genug Geld übrig, um einen dritten Trainer einzustellen. In den schwierigsten Zeiten hatte sie gemeinsam mit Co-Trainerin Kendra alles alleine gestemmt. "Drei Jahre lang haben wir zu zweit Social Media gemacht, Fundraising, Training, Reisen geplant, die Mädels rumgefahren", erzählt Boggasch. Durch die Fundraising-Kampagne seien die Seawolves nun sogar berühmt genug geworden, dass plötzlich auch Trainer als Volunteer kommen möchten." Wir haben jetzt eine Person eingestellt und eine Person als Volunteer Coach. Und das macht einen großen Unterschied", sagt sie.

Die Multi-Kulti Truppe

Den ursprünglich 14 Turnerinnen starken Kader hat Boggasch so zu einer Multikulti-Truppe aus 20 Athletinnen aufstocken können.

"Wir haben jemanden aus Guatemala, wir haben jemanden aus El Salvador, aus Mexiko und ganz viele aus Kanada und jetzt auch zwei Australierinnen", erzählt sie. Von ihrer ehemaligen Trainerin in Karlsruhe, hat Boggasch gelernt, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. "Auch mein großes Ziel bleibt es immer, dass wir den Menschen zuerst betrachten, dass wir mit dem Menschen weiterkommen. Aber turnerisch gesehen hoffe ich, dass wir dafür die Früchte irgendwann ernten dürfen", erklärt sie. Mit ihrem Team an die Spitze ihrer "Conference" zurückkehren und sich so für die "Post Season" zu qualifizieren, das wäre für Boggasch ein Traum. "Neben der vielen kleinen Ziele, die wir uns als Team und als Coaching Staff gesetzt haben, wäre das eins großes Ziel", sagt sie.

Das würde nach ihrer Ansicht auch sehr helfen, nicht in absehbarer Zeit wieder eine Fundraising-Kampagne starten zu müssen. "Wir wollen unsere Marke ausbauen, gerade innerhalb der Universität. Das ist uns in den letzten Jahren sehr gut gelungen. Mein großer Spruch ist immer: Be undeniable!", sagt sie mit einem Grinsen.

Der Blick über den Tellerrand

Von ihrer ehemaligen Trainerin Tatjana Bachmayer, mit der sie sich noch heute intensiv austauscht, hat sie nach eigener Einschätzung sehr viel mitbekommen. Auch in Sachen Leistung mit Respekt.

"Ich glaube, nicht eine Person in unserem Team zögert, mir zu sagen, wenn ihr was nicht passt. Oder wenn ihr etwas weh tut. Oder wenn irgendwie ein großes Lebensereignis bevorsteht, ob das jetzt Schule oder Familie oder irgendwas ist, wo man etwas anpassen muss", ist Boggasch überzeugt. Auch den steten Blick über den Tellerrand hat sie aus dem Rudi-Seiter-Zentrum mitgenommen. "Wir orientieren uns an den Besten der Besten, wenn wir über Trainingspläne, Trainingsaufbau, die Bildung einer Mannschaftskultur sprechen oder wenn es darum geht, wie man bei den Medien weiterkommt", erklärt sie und nennt den Engländer Nick Ruddock als weitere große Inspirationsquelle. "Aber ich bin tatsächlich der festen Überzeugung, dass wir sehr vieles schon sehr richtig machen", findet sie.

Neuer Traumjob: Trainerin

Dass sie nach ihrem Abschluss aber noch einmal in die Turnhalle zurückkehren würde, hätte Boggasch nicht für möglich gehalten.

"Aber Turnen als Trainerin macht richtig Spaß. Das hat mir Taty nie erzählt. Das hätte sie mir ruhig mal sagen können", sagt Boggasch ein wenig gespielt vorwurfsvoll. "Ich war immer so aufgeregt, wenn ich selbst turnen musste. Und jetzt sind meine Aufgaben bereits beendet, wenn der Wettkampf beginnt", lacht sie. Sie könne jetzt völlig entspannt danebenstehen, anfeuern, sich freuen und Beifall klatschen.

"Worauf ich aber sehr stolz bin und was mir einfach so viel Spaß macht, ist, Leute - genau wie mich damals - an die Hand zu nehmen. Die jungen Frauen kommen hierher, meistens weg von der Familie und wollen dann irgendwann nach vier Jahren ins Arbeitsleben einsteigen. Aber viele haben ihre eigene Persönlichkeit noch gar nicht wirklich gefunden. Ihre eigene Stimme, mit der sie dann auch sagen können, was ihnen passt oder nicht passt. So eine Entwicklung mit erleben zu dürfen, ist etwas sehr Schönes", schwärmt sie.

Die rote Piper Pacer PA-20

Ihr eigenes Flugzeug, eine rote Piper Pacer PA-20, besitzt sie noch. "Die fliege ich auch. Aber ich sie fliege nur, wenn ich Lust habe. Und das Wetter schön ist. Und wenn mir niemand erzählt, dass ich jetzt unbedingt irgendwie fliegen muss", sagt sie.

Ob sie aber noch einmal auf ihren Weg als Profi-Pilotin zurückkehrt – Boggasch weiß es nicht. Die großen Airlines hätten sie jedenfalls nicht mehr interessiert, nachdem sie nach Alaska gezogen sei. "Ich habe jetzt viele Freunde, die bei Airlines arbeiten. Deren Lebensstil, nein, also das möchte ich eigentlich nicht machen. Die sind kaum daheim und können so wenig ihre Freundschaften vor Ort pflegen. Das ist sehr schwer", findet sie.

AUSGABE         International 03-2023 | Einblicke | Fliegen und Trainieren auf 61°11′24″ Nord, 149°49′37″ West
AUTOR              Nils B. Bohl