Dr. Alfons Hölzl und Thomas Gutekunst | Foto: Minkusimages
Einblicke

Dr. Alfons Hölzl & Thomas Gutekunst

DTB-Präsident und Sportdirektor im Gespräch

Was bedeutet der Nachwuchsleistungssport für den Deutschen Turner-Bund? Dem geht Katja Sturm im Gespräch mit Dr. Alfons Hölzl, Präsident des Deutschen Turner-Bundes und Thomas Gutekunst, DTB-Sportdirektor auf den Grund.

Gibt es in Deutschland noch genug Nachwuchs, der bereit ist, Turnen als Leistungssport zu betreiben?

Thomas Gutekunst: Es gibt weiterhin eine breite Basis im Turnen in den Vereinen. Die spannende Frage wird sein, wie wir es schaffen, die Turnerinnen und Turner so kontinuierlich weiterzuentwickeln, dass sie am Ende in der Spitze ankommen. Auf den Etappen dorthin hören immer wieder welche auf. An einigen Punkten im System haben wir neuralgische Stellen, an denen wir schauen müssen, dass die Breite nicht zu dünn wird.

Dr. Alfons Hölzl: Wir haben nach Corona einen wahnsinnig großen Zuspruch in den Turnvereinen und -abteilungen erlebt. Es gibt Wartelisten beim klassischen Kinderturnen, aber auch beim Gerätturnen. Das zeigt, dass es einen riesigen Bewegungsdrang gibt. Ich hoffe, dass wir diese Begeisterung aufgreifen können, damit mehr Kinder Turnen als Leistungssport für sich entdecken. Das kann nach meiner Meinung gelingen, wenn die Kinder relativ schnell Kunststücke lernen, welche sie freuen und auf welche sie stolz sind: Handstand, Flick-Flack oder Bogengang führen beispielsweise dazu, dass sie sich mit dem Turnen identifizieren. Das sind wahre Bindungselemente, welche dazu führen, dass – wie Thomas sagt – “die Breite nicht zu dünn wird”. Um das zu erreichen, braucht es qualitativ hochwertige Trainerinnen und Trainer.

Reicht dies aus?

Hölzl: Ich sehe darin zumindest einen wesentlichen Erfolgsfaktor. Bei den Jungs beispielsweise, wo der Konkurrenzkampf der Sportarten groß ist, bekommen wir relativ schnell die Quittung. Sie wandern zu Spielsportarten ab, wenn wir sie nicht durch turnerisches Können binden. 

Gibt es genügend Trainerinnen und Trainer, die bereit sind, Kinder zu begleiten, die Turnen intensiver betreiben wollen?

Gutekunst: Die Trainer und Trainerinnen sind ein Erfolgskriterium für erfolgreichen Nachwuchs-Leistungssport. Ihre Anzahl, aber auch die Ausbildung und die Rahmenbedingungen des Trainerjobs. Wie attraktiv ist ein Trainerjob zukünftig? Da rede ich nicht nur über den Spitzensport. Mit die besten Trainerinnen und Trainer brauchen wir im Nachwuchsbereich. Wir brauchen Trainerinnen und Trainer, die Lust haben und dafür brennen, Talente zu entwickeln, und so gut ausgebildet sind, dass sie die jungen Turnerinnen und Turner nach oben bringen. Das ist ein Problemfeld, das wir angehen müssen. Man muss sich ansehen, für wie viele ehemalige Leistungsturnerinnen und -turner es ein attraktives Ziel ist, in den Trainerberuf einzusteigen. Da haben wir Nachholbedarf.

Hölzl: Ich kann die Aussagen von Thomas nur bekräftigen. Bei den Kindern sind wir der stärkste Sportfachverband. Wir können unseren Bedarf an Trainerinnen und Trainern mitnichten abdecken. Wir müssen auf Landes- und Bundesebene verstärkte Anstrengungen unternehmen, um die Trainerinnen und Trainer zu halten und mehr Trainerinnen und Trainer zu gewinnen. Wir müssen sie unterstützen; sie weiter und verstärkt zu einem qualitativ hochwertigen Training befähigen.

Was hat man getan, um diese Situation zu ändern? 

Gutekunst: Zunächst schauen wir uns regelmäßig die Ausbildung an und prüfen, ob die auf dem aktuellen Stand und attraktiv ist. Außerdem wollen wir noch mehr mit denen sprechen, die im Leistungssport noch aktiv sind. Wir sprechen darüber, ob sie zu einem Einstieg in den Trainerberuf bereit wären, was sie motiviert, was sie brauchen und was wir tun können, damit sie noch während der Karriere mit vorbereitenden Maßnahmen beginnen. Sie haben Kenntnisse und Erfahrungen aus ihren Turnkarrieren, die gewiss ein Vorteil sind, aber manches stellt sich aus der Perspektive des Trainers oder der Trainerin auch komplett anders dar als aus der eines Athleten oder einer Athletin.

Aber ist nicht vielmehr das dauerhafte Engagement das Problem? Ich denke an die oft befristeten und von Erfolgen abhängigen Vertragslaufzeiten oder an die heute mehr gefragte Work-Life-Balance.

Gutekunst: Wir müssen uns um alle Etappen kümmern. Der erste Schritt ist es, Trainerinnen und Trainer mit entsprechende Ausbildung und entsprechenden Lizenzen zu haben. Von denen sind viele nicht bereit, diesen Weg hauptamtlich einzuschlagen. Da ist das Berufsbild offenbar nicht attraktiv genug.

Was können Sie dabei als einzelner Fachverband selbst machen, und was ist ein grundsätzliches Problem im deutschen Sport?

Hölzl: Inhaltlich ist unsere Ausbildung gut. Wir haben Top-Referent*innen und Top-Inhalte. Über Partnerschaften kann der Trainernachwuchs von erfahrenen Kolleginnen und Kollegen lernen. Die Ausbildung ist nicht mit dem Kurs abgeschlossen. Durch Hospitation bei erfahrenen Trainerinnen und Trainern, Online-Module, Symposien, u.v.m. tragen wir zur Qualifizierung maßgeblich bei. Das sind alles wertvolle Bausteine, die zeigen, dass wir in der Ausbildung und Fortbildung große Stärken haben. Trotzdem stellen wir weiteren Handlungsbedarf fest.

Gutekunst: Wir stecken viel Energie in die Ausbildung. Von der PotAS-Kommission, die die Arbeit der Spitzenverbände bewertet, haben wir Anfang des Jahres im Bereich Aus- und Fortbildung volle Punktzahl bekommen. Mit dem Thema, wie wir die Trainer letztendlich motivieren, den Weg zu einer hauptberuflichen Stelle einzuschlagen, muss sich nicht nur der Turnsport beschäftigen. Die bisherigen Offensiven des Deutschen Olympischen Sportbundes haben noch nicht die gewünschte Wirkung entfaltet. Die Rahmenbedingungen des Trainerberufs sind ein komplexes Thema. Wir müssen sportartübergreifend arbeiten, um den Beruf aufzuwerten. Dabei geht es auch um Wertschätzung.

Hölzl: Der Leistungssport, egal ob Nachwuchsleistungssport oder Spitzensport, lebt zum großen Teil von der staatlichen Förderung. Deshalb muss sich die angemessene Bezahlung der Trainerinnen und Trainer auch in einer Erhöhung und verlässlichen Dauer – z. B. für einen Olympiazyklus – der staatlichen Förderung widerspiegeln. Das ist nicht ausreichend der Fall. Eine Möglichkeit wäre, dass sich die staatliche Förderung in dem Maße erhöht, wie sich staatliche Gehälter ändern (z. B. TVöD, TVL – Tarifverträge des Bundes und der Länder). Hier ist der Staat auf Bundes- und Landesebene gefordert. Darüber hinaus muss allen klar sein, dass sich auch die eigenen Mittel erhöhen müssen. Daran arbeiten wir im Verband. Im Nachwuchsleistungssport betätigen sich überwiegend ehrenamtliche und nebenberufliche Trainerinnen und Trainer. Auch für die braucht es angemessene Lösungen, wie beispielsweise die Gewährung von Rentenpunkten für das ehrenamtliche Engagement, damit sie im Alter keinen Nachteil durch ihren Einsatz erleiden.

Früher hieß es oft, es gebe nicht genügend hauptamtliche Stellen, jetzt heißt es in anderen Sportarten oft, es gebe für die Stellen nicht genügend Bewerber und Bewerberinnen. Wie sieht es beim Turnen aus?

Gutekunst: Die Zahl der Bewerberinnen und Bewerber ist bei Stellenausschreibungen sehr übersichtlich. Wir haben Top-Stellen in Stützpunkten und Zentren, die schon länger nicht besetzt sind.

Zurück zu den Aktiven: Wie stehen Sie den jetzt wieder angedachten Sichtungen in frühen Jahren, in Kindergärten oder Grundschulen gegenüber, um Talente in die passenden Sportarten zu lenken?

Hölzl: Es spricht viel dafür, die Talentfindung nicht dem Zufall zu überlassen. Daran ist nichts Verwerfliches, und das hat auch nichts mit Staatssport zu tun, wie oft angeprangert wird, denn bei uns organisieren Vereine und Verbände den Sport. Über die Vereine erreichen wir jedoch nur etwa 50 Prozent der Kinder und die Verbindungen, die zwischen Schulen und Vereinen bestehen, sind nicht ausreichend genug. Wir sollten jedoch allen Kindern die Möglichkeit geben, ihren Sport zu finden. Dafür braucht es flächendeckende Talentfindungsmaßnahmen, die alle Kinder erreichen und welche den Kindern ihre Talente aufzeigen. Es steht dann in der Entscheidungskompetenz der Kinder und ihrer Sorgeberechtigten, ob und welchen Sport sie betreiben.

Gutekunst: Die Sichtung muss natürlich in den Ländern stattfinden aber wir haben auch als Spitzenverband die Sichtung in den vergangenen zwei Jahren wieder stärker als Thema bearbeitet. Initiiert aus dem Bereich Gerätturnen männlich von Nachwuchs-Bundestrainer Jens Milbradt und seinem Team haben wir eine Sichtungskonferenz mit Trainerinnen und Trainern und Verantwortlichen aus den Landesturnverbänden gemacht, um neue Akzente zu setzen.

Wo sehen Sie bei den gefundenen und willigen Talenten die Knackpunkte auf dem Weg nach oben?

Hölzl: Durch den Nachwuchsleistungssport soll die Anschlussfähigkeit an den Spitzensport hergestellt werden. Das Ziel ist das Erreichen eines turnerischen Niveaus, welches bei den Seniors zur "erfolgreichen" Teilnahme bei Olympischen Spielen, oder Europa- und Weltmeisterschaften befähigt. Dafür bedarf es bei den Athletinnen und Athleten einer unwahrscheinlich großen intrinsischen Motivation. Talent hin oder her, sie müssen "ein Stück weit verrückt sein und bereit sein sehr vieles dem sportlichen Erfolg unterordnen." Erfolg muss man sich gerade im Turnen sehr hart erarbeiten, da gehören Disziplin und Verzicht dazu. Dafür wird man u. a. mit unbeschreiblichem Können und Erlebnissen belohnt. Ich habe beim Weltcup in Kairo im Bus neben einem Sportwissenschaftler gesessen, der das Training in anderen Ländern auswertet. Er hat mir gesagt: "Deutschland ist spitze in der Technik, aber nicht, was den Trainingsfleiß anbelangt." Diese Wahrnehmung eines Sportwissenschaftlers, welcher internationale Vergleiche anstellt, stimmt mich nachdenklich. Der Trainingsfleiß, der unbedingte Wille zum Erfolg sind unverzichtbar, um im internationalen Wettbewerb mithalten zu können. Um dies zu unterstützen, müssen auch die weiteren Rahmenbedingungen stimmen.

Gutekunst: Im Turnen braucht es schon in relativ jungen Jahren sehr hohe Umfänge und entsprechend viel Fleiß, Zielstrebigkeit, Motivation. Wir müssen langfristig ein System schaffen, in dem das mit Spaß leistbar und mit der Schule zu kombinieren ist. Man muss ein Umfeld schaffen, in dem sich Turnerinnen und Turner gerne bewegen und hart arbeiten, und in das Eltern ihre Kinder gerne hineingeben, weil sie es als gutes System ansehen. Das ist eine komplexe Aufgabe. 

Und kann nicht überall passieren. Im Turnen müssen Kinder, die nicht das Glück haben, in der Nähe eines Stützpunktes zu leben, schon sehr früh aus dem Elternhaus. Wie löst man dieses Problem?

Gutekunst: Wir brauchen ein in sich schlüssiges Stützpunktnetzwerk mit Turn-Talentschulen im gesamten Land, in denen die Kinder bis zum Alter von etwa zehn Jahren gut aufgehoben sind. Und auch danach eine dezentrale Struktur, die die Möglichkeit bietet, grob gesagt in jedem Bundesland die nächsten Etappen zu durchlaufen. Es darf nicht zu früh Entwicklungsschritte geben, die nur noch in ganz wenigen Orten in Deutschland möglich sind. Eine Konzentration sollte erst in der Spitze, frühestens nach der zehnten Klasse, bestenfalls nach dem Schulabschluss, nötig werden.

Reicht dafür das, was bereits vorhanden ist?

Hölzl: Mit den Turn-Talentschulen haben wir ein Juwel, welches jedoch noch zu wenig verbreitet ist. Man kann auch im Turnsport, wie Thomas ausführt, bis zu einem bestimmten Alter, das von der einzelnen Sportart abhängt, sehr gut vor Ort dezentral bzw. regional in Turn-Talentschulen sich entwickeln bzw. erfolgreich trainieren, wenn entsprechend dem Anforderungsprofil (1) die Trainerinnen und Trainer über die entsprechende Qualifikation verfügen und (2) die Hallenausstattung stimmt. Es gibt genaue Anforderungen, was man für eine Talentschule braucht. Das kann sich jeder Verein anschauen und entscheiden, ob er die Voraussetzungen für eine Turn-Talentschule erfüllt oder das für sich als Entwicklungsmöglichkeit ansieht. Dann braucht es weitere flächendeckende Angebote in Gestalt von Turn-Zentren/Landesstützpunkten und darüber hinaus Bundesstützpunkten.

Gutekunst: Wir möchten die zertifizierten Turn-Talentschulen und Turnzentren, die auf dem Papier ein gutes System sind, in der Praxis stärken und aufwerten. Und die Kooperationen zwischen den Stützpunkten müssen teilweise stärker mit Leben gefüllt werden.

Hölzl: Ja, die Zahnräder müssen ineinandergreifen. Das bedeutet, dass der leistungsambitionierte Verein, regionale Strukturen, die Länder- sowie die Bundesebene alles dafür tun müssen, um die Anschlussfähigkeit auf Bundesebene erfolgreich zu meistern. Da kommt auch der Bundesgesetzgeber ins Spiel. Die Leistungssportreform, wie sie jetzt in einem Referentenentwurf zu einem Leistungssportgesetzt vorliegt, gibt leider nicht genügend Antworten, welche zudem auch noch in die falsche Richtung weisen.

Könnten Sie das präzisieren?

Hölzl: Ich finde es gut, dass man auf Bundesebene den Schritt wagt, sich ein Sportgesetz zu geben. Das bringt eine andere Verlässlichkeit mit sich, als das eine Richtlinie leisten kann. Der Gesetzgeber muss allerdings die wesentlichen Entscheidungen selbst treffen. (1) Wir brauchen keine Sportagentur, um die staatlichen Sportfördermittel zu vergeben, wenn diese sportfachlich – wie gesagt im Rahmen des vom Gesetzgeber gesetzten Rahmen – nicht unabhängig agieren kann. So ist beabsichtigt für die Sportagentur jährlich fünf Millionen Euro zu investieren und schafft mit ihr einen zusätzlichen Verwaltungsbaustein. Dieser zusätzliche Aufwand an Bürokratie und Verwaltung verschlingt auch auf unserer Ebene Kosten. Es müssen also die Rahmenbedingungen der beabsichtigten Gründung einer Sportagentur geändert werden. Nur dann macht sie Sinn. (2) Es ist gut und richtig, nach Potenzial und Erfolg zu fördern. Aber das Typische in unserem Sportsystem ist auch die Vielfalt. Auf den Turnsport bezogen, bedeutet das, dass wir nicht nur unsere Kernsportart Gerätturnen haben, sondern im olympischen Bereich auch Rhythmische Sportgymnastik und Trampolinturnen. Wenn es im Gesetz heißt, dass der Erhalt der Vielfalt ein Ziel ist, dann bezeichnet das eine Minimalförderung zur Existenzsicherung. Das ist nicht meine Erwartungshaltung für eine zukünftige Sportförderung. Es muss daher unsere Forderung sein, die Vielfalt unter Berücksichtigung der Verankerung des Sports in unserer Gesellschaft zu stärken. Der tiefere Grund dafür, dass Leistungssport gefördert wird, ist die Verankerung des Sports in der Gesellschaft. Anders gefragt: Warum soll der Staat den Sport fördern, wenn er von der Bevölkerung nicht betrieben wird? (3) Da kommt auch der Breitensport mit ins Spiel. Dieser Aspekt fehlt mir im bisherigen Gesetzesentwurf vollständig. Ein Sportgesetz muss den Sport umfassend aufgreifen und darf nicht nur ein Stückwerk sein. (4) Ein weiterer Punkt: Den Weg zu Campuslösungen, also mehrere Sportarten in einem Campus unter optimalen Bedingungen zu betreiben und so eine Stärkung von Stützpunkten herbeizuführen, begrüße ich außerordentlich. Dabei jedoch die Zahl der Bundesstützpunkte zu reduzieren ist für den Turnsport nicht akzeptabel. Dies gilt wohl für alle Sportarten, in welchen die Bundeskaderathleten und -athletinnen zum großen Teil noch zur Schule gehen. Wir wissen, wie wichtig optimale Bedingungen sind. Im Nachwuchsleistungssport und Spitzensport – jedenfalls bis zum Schulabschluss bzw. bis zur Volljährigkeit der Bundeskaderathletinnen und -athleten braucht der Turnsport starke Stützpunkte in den Regionen. Das gebietet schon der Anspruch einen sicheren und menschenwürdigen Leistungssport anzubieten. Dafür muss die staatliche Förderung geöffnet werden. So, wie es jetzt vorgesehen ist, liegt es im Belieben der Sportagentur, ob wir dafür eine staatliche Unterstützung erhalten. Das kann es nicht sein. Das sind grundsätzliche strategische Entscheidungen, und die hat der Gesetzgeber zu treffen und keine Behörde.

Nicht nur im Nachwuchsleistungssport ist das Thema Safe Sport ein viel diskutiertes.

Hölzl: Wir haben einen Safe Sport Code gemeinsam mit der Sporthochschule Köln und in Kooperation mit der Reiterlichen Vereinigung, als erster Sportverband erstellt. Darin steht, was es für Gebote, Verbote und Verfahren gibt, um sicheren Sport zu ermöglichen. Durch den Code wollen wir präventiv arbeiten, also jegliche Gewalt im Sport vermeidend entgegenwirken, Verstöße regelkonform sanktionieren und aufarbeiten. Den Code haben wir auf Bundesebene inzwischen beschlossen und einen Umsetzungsprozess eingeleitet. Dazu ist nun der gemeinsame Austausch und eine Entscheidung mit den Landesturnverbänden unerlässlich, um die Implementierung und Umsetzung auch auf der Landesebene bis hin zu den Vereinen zu erreichen. Das kostet Geld, und dafür brauchen wir staatliche Unterstützung. "Sicherer Sport" muss uns etwas wert sein, und das muss sich in der Förderung niederschlagen. Eltern werden ihre Kinder nur zum Sport geben, wenn sie davon überzeugt sind, dass die Kinder dort gut aufgehoben sind.

Was beinhaltet der Code? 

Hölzl: Es geht erst einmal darum, ein Bewusstsein zu schaffen, dass Sport nur ohne Gewalt, gleich welcher Form, gesellschaftskonform ist. Das machen wir auch schon länger in Aus- und Fortbildungen. Manche fragen sich, ob man Leistungssport unter dieser Maßgabe überhaupt noch und erfolgreich betreiben kann. Da ist unsere Haltung klar: Der Leistungssport ist in unserer Gesellschaft nur möglich, wenn man jede Form von interpersoneller Gewalt ausschließt und die Vorkehrungen dafür trifft. Dafür muss es klare Regeln geben. Und diese finden sich im Code. Er ist das Gesetz über das gewünschte Verhalten und bestimmt, welche Sanktionen es bei Fehlverhalten gibt. Wenn jemand ein solches meldet, wird in einem ersten Schritt überprüft, ob ein Verstoß vorliegen kann. Wenn ja, das entspricht im Strafrecht dem Anfangsverdacht, wird ein Ermittlungsverfahren eröffnet. Erst dann wird ein offizielles Verfahren in Gang gesetzt, welches auch zu konkreten Ahndungen führen kann. Wie gesagt soll der Code jedoch auch präventiv wirken und zur Aufarbeitung von Verstößen beitragen, welche über die Ahnung hinausgeht. Schließlich wollen wir möglichst gut gewährleisten, dass aus Fehlverhalten die richtigen Schlüsse für die Zukunft gezogen werden, um gewaltfreien Sport zu gewährleisten. Wir stehen ganz am Anfang der Umsetzung, sind aber immerhin der erste Spitzenverband, der das überhaupt macht.

Safe Sport Code des Deutschen Turner-Bundes

Das Präsidium des Deutschen Turner-Bundes hat auf seiner Sitzung am 9. April 2024 einen Safe Sport Code für seine Verbandsstrukturen diskutiert und verabschiedet. Das 67 Seiten starke Werk soll künftig als bindende Richtlinie und als Standard dienen, um jeglicher Form von Gewalt innerhalb des DTB präventiv entgegenzuwirken und bei Bedarf zu ahnden. Der Code soll bei dem kommenden Deutschen Turntag im Herbst in der Satzung des DTB verankert werden.

Zum Safe Sport Code

Wie kontrolliert man das?

Gutekunst: Das eine ist der Safe Sport Code, der eine juristische Handhabe ermöglicht. In einem weiteren Projekt mit der Uni Münster haben wir in einem partizipativen Prozess mit den Zielgruppen Verhaltensrichtlinien entwickelt. Da geht es nicht so sehr um Sanktionen und Verstöße, sondern um Prävention. Und dies betrifft letztendlich nicht nur den Leistungssport, sondern es gilt die Verhaltensregeln gemeinsam mit den Landesturnverbänden bis in die Vereine zu bringen, damit diese sich dort damit beschäftigen. Wir wollen, dass alle gerne zum Turnen gehen und dort geschützt sind, auch die Trainerinnen und Trainer. Ein Beispiel: In den Verhaltensrichtlinien wird ein Augenmerk auf Eins-zu-Eins-Beziehungen gelegt. Damit ist gemeint, dass Trainer*in oder Betreuer*in vor allem mit minderjährigen Turnern oder Turnerinnen nicht allein in der Halle oder auf einer Autofahrt sind. Dabei geht es in keiner Weise darum, Trainer*innen anzuklagen oder gar einen Generalverdacht auszusprechen. Im Gegenteil, alle sollen sich bewusst machen, dass es sensible Situationen sind und dafür sensibilisieren. Wir sind uns bewusst, dass diese Situationen, die im Grundsatz ein erhöhtes Gefahrenpotenzial mit sich bringen, in der Praxis vorkommen und nicht gänzlich zu vermeiden sind. Daher wollen wir, dass man darüber gemeinsam spricht und bewusster damit umgeht, dann ist schon einiges gewonnen.

Hölzl: Die Gewährleistung des sicheren Sports wird zukünftig auch Anforderung sein für die staatliche Förderung. So steht das zumindest im Entwurf des Spitzensportfördergesetzes. Im Koalitionsvertrag hat man sich auf ein Zentrum Safe Sport verständigt, aber da ist vieles noch ungewiss. Soll das eine zentrale Behörde werden, und welche Aufgaben hat sie? Wie soll das funktionieren? Und welche Bedeutung käme einem zentralen Code zu? Das Bundesinnenministerium hat unseren Code jedenfalls sehr positiv aufgenommen, und vielleicht findet er, angepasst an die jeweiligen Sportarten, Eingang in den deutschen Sport insgesamt. Wir wollen ihn im DTB beim nächsten Turntag in unsere Satzung aufnehmen. Mit unseren beiden Vorlagen – Safe Sport Code und Verhaltensrichtlinien – können wir sicher auch einen guten Beitrag auf internationaler Ebene leisten und die Diskussion dort beflügeln.

Gutekunst: Im Projekt zur Weiterentwicklung der Verhaltensregeln haben wir uns auch bei anderen Ländern umgeschaut. Für manche sind wir Vorreiter, andere wie England haben schon einen umfassenden Verhaltenskatalog. Der Weltturnverband FIG hat das heruntergebrochen auf Ten Golden Rules. Unsere Verhaltensrichtlinien stellen da eine Erweiterung dar. 

In dem Zusammenhang haben Sie, Herr Hölzl, auch schon die Heraufsetzung der Altersgrenze bei internationalen Meisterschaften angesprochen. Was würden Sie sich davon versprechen?

Hölzl: Das würde funktionieren, wenn es einen internationalen Konsens gäbe. Da dürfte sich nicht nur das Alter ändern, der Trainingsprozess müsste entsprechend adaptiert werden. Es geht darum, wann die Athletinnen und Athleten fertig ausgebildet sein sollen. So schön es ist, schon im Jugendbereich erfolgreich zu sein, wichtig ist, dass unsere Athletinnen und Athleten möglichst gesund und leistungsfähig im Erwachsenenalter ankommen. Da muss man die Köpfe zusammenstecken und sich fragen, was das konkret bedeutet. Kann man die Belastung irgendwo reduzieren? Wie muss ein optimales Training aussehen, damit die Kinder und Jugendlichen gesund groß werden? Nur das Startalter von 16 auf 18 Jahre hochzusetzen, ist zwar nach außen hin plakativ, aber das reicht nicht. Wenn, dann muss das Anforderungsprofil im Wettkampf verändert werden, denn daran werden die Trainingsprozesse ausgerichtet.

Sind in diesem Zusammenhang internationale Junioren-Wettkämpfe wie Welt- und Europameisterschaften kontraproduktiv? Könnte oder sollte man sich dort als DTB heraushalten?

Gutekunst: Internationale Junioren-Wettkämpfe sind wichtige Wettkämpfe in den jeweiligen Altersklassen und wir werden daran auch weiterhin teilnehmen. Für mich gibt es da nicht nur Schwarz und Weiß. Es hängt von der Zielstellung und dem Charakter der jeweiligen Meisterschaft ab und ist ja nicht per se schlecht in dem Alter. Im Gegenteil: Junioren-EM und -WM oder auch Länderkämpfe, für die man sich gemeinsam vorbereitet, das Nationaltrikot anziehen darf, sind wichtige sportliche Highlights bei denen man wertvolle Erfahrung sammeln kann und auch tolle Erlebnisse, die sehr motivieren. Es ist ja nicht schädlich, sich in dem Alter mit anderen auf Topniveau zu messen. Aber die Rolle solcher Meisterschaften muss klar sein: dass sie nicht das Endziel einer Karriere darstellen, sondern einen wichtigen Schritt in der Entwicklung dieser jungen Athletinnen und Athleten.

Kann man das als einzelner Verband anders für sich definieren als die anderen?

Hölzl: Wir wollen unsere Athletinnen und Athleten natürlich nicht abgehängt sehen. Wir möchten, dass sie mithalten können. Aber Ziel muss sein, dass sie bestens ausgebildet, gesund durch die Jugend kommen und im Erwachsenenalter ihre besten Höchstleistungen abliefern können.

Heißt das, man muss die Sportlerinnen und Sportler gegebenenfalls bremsen? Wie setzt man das um?

Hölzl: Es geht darum, wann ich die bzw. der Beste sein möchte. Was bringt es uns, Jugendliche zu "verheizen"? Das ist ein schwieriges Thema, und es gibt da keine pauschalen, sondern nur individuelle Lösungen. Wir haben da alle eine gewisse Verantwortung.

Gutekunst: Die Bundestrainerinnen und Bundestrainer und wir als Verband müssen das im Blick haben und Trainerinnen und Trainer sowie Athletinnen und Athleten im Zweifel auch mal bremsen. Dabei muss man berücksichtigen, dass nicht jeder gleich belastbar ist. Wichtig ist, dass wir es schaffen, darüber zu reden, wenn es irgendwo Probleme und Fehlentwicklungen gibt. Diese Offenheit ist für mich in vielen Bereichen der Schlüssel. Wenn wir so eine Kultur haben, ist viel gewonnen.

Das Potenzialanalysesystem PotAS

Das Potenzialanalysesystem (PotAS) ist aus der Leistungssportreform aus dem Jahre 2016 entstanden und Teil des Prozesses der Spitzensportförderung.

Die PotAS-Kommission analysiert die disziplinbezogenen Potenziale der Olympischen Spitzenverbände anhand von transparenten, sportwissenschaftlichen und sportfachlichen Leistungskriterien. Die Leistungskriterien gliedern sich in die drei Säulen Erfolg, Kaderpotenzial und Struktur mit insgesamt 11 Hauptattributen.

PotAS liefert damit eine objektive und unabhängige Entscheidungsgrundlage für die verschiedenen Schritte des Förderverfahrens.

Nähere Infos zur Arbeit der PotAS-Kommission sind auf der Internetseite zu finden:

Startseite | PotAS

AUSGABE         Nachwuchs 02-2024 | Einblicke | DTB-Präsident und Sportdirektor im Gespräch
AUTORIN          Katja Sturm