Wilhelm Pappert | Bildquelle: Markus Gilliar/GES Sportfoto
Einblicke

Wilhelm Pappert

Der Hüter der Turngeschichte

Im untersten Stockwerk der Zentrale des Deutschen Turner-Bundes (DTB) in Frankfurt befindet sich das Reich von Wilhelm Pappert. Der Raum am Ende eines langen, trostlosen Gangs mit dem Charme einer Finanzbehörde, beherbergt hinter einer unscheinbaren Tür das, was den Verband seit nunmehr 175 Jahren zusammenhält: die Bibliothek seiner Geschichte.

Ein Ort, an dem die Zeit stillzustehen scheint und in der man für einen Augenblick in eine andere Welt eintauchen kann. Wer sie betritt, spürt sofort die Magie der Geschichte und Geschichten. "Wir haben hier alle Bände der Deutschen Turn-Zeitung. Die älteste Ausgabe ist von 1856", sagt Pappert, der sich seit 1995 um die Schriften, Bücher und Artefakte des DTB kümmert.

(Wilhelm Pappert in der DTB-Bibliothek | Bild: Markus Gilliar/GES Sportfoto)

Duft nach vergilbten Seiten

Die Bibliothek des Turnens - oder das, was noch davon übrig ist - wird von einem langen Regal gesäumt. Die Luft ist erfüllt vom Duft vergilbter Seiten und altem Leder, und es scheint, als ob viele der aufgereihten Bände in dieser Bibliothek eigene, geheimnisvolle Geschichten zu erzählen hätten. Auf Schränken stapeln sich Archivkartons mit Programmen aller Deutschen Turnfeste, auch eine Frauen-Turnzeitung und eine Bier-Turnzeitung mit den angesagtesten Witzen und Karikaturen ihrer Zeit, finden sich in dem Sammelsurium.

"Früher haben die Leute ja noch Witze gemacht. Die Turner haben sich auf Postkarten oder in Schriften gerne mal selbst veräppelt. So etwas macht man heute gar nicht mehr",
erzählt Pappert und ein Hauch des Bedauerns schwingt in dieser Aussage mit.

Pokale, Lorbeerkränze und Banner

Sein Blick schweift entlang eines Regalfachs, in dem diszipliniert aneinandergereiht, Zinn- und Silberpokale längst vergessener Wettkämpfe stehen. Sie berichten ebenso von der Leistungsfähigkeit früherer Turner wie der getrocknete Lorbeerkranz, der vor beinahe hundert Jahren wohl einmal das Haupt eines Siegers schmückte.

"Das war damals noch sehr beliebt", weiß Pappert.

Samtene Banner künden zudem vom einstigen Glanz der Turnfeste zu Leipzig, Köln und Stuttgart. Eine uralte Karte zeigt die Turnkreise in den Umfängen des Deutschen Reiches und von der Wand blickt Turnvater Jahn nachdenklich von einem Wandteller, die Briefmarken mit seinem Konterfei ruhen in einer kleinen Pappschachtel in einem Schrank.

Der Bibliothekar, der eigentlich keiner ist

Bewacht wird die Bibliothek von einem Bibliothekar, der eigentlich gar keiner ist. "Ich bin Ingenieur, habe bis 1995 bei T&N gearbeitet. Der ein oder andere mag das vielleicht von den Bahnhofsuhren kennen, die sich hin und wieder noch auf älteren Stationen finden", verrät Pappert. Aufgebaut und katalogisiert hat die Bibliothek Dr. Fritz Schengbier. "Er hat das alles in Ordnung gebracht, besser geht es nicht", lobt der Wächter und zieht einen Zettel unter einer Kaffeetasse hervor: "Herr Pappert übernimmt nicht die Funktion des Archivars", liest er vor. Und das will er auch gar nicht. "Ich halte es in Ordnung so gut wie es geht", sagt er und ein Blick auf den Kalender verrät ihm: "Ich bin heute zum 1.256sten Mal hier."

Bibliothekar Wilhelm Pappert

Als Pappert nach dem Krieg mit dem Turnen begann, stand der Mehrkampf mitsamt der Leichtathletik noch hoch im Kurs. Sein erstes Deutsches Turnfest erlebte er mit 13, mit 18 machte er seine Übungsleiterlizenz im Landessportbund und wurde Vorturner der TG Unterliederbach, deren Ehrenmitglied er heute ist. Er war Kampfrichterwart und 15 Jahre lang Oberturnwart des Turngaues Main-Taunus. "Das waren die besten Jahre meines Lebens. Und jetzt auf meine etwas älteren Tage "mache" ich gerne in Turngeschichte", sagt er heute.

Schon 1993 habe er gelesen, dass in der Bibliothek ein Mitarbeiter gesucht wurde. "Das könnte doch mal interessant sein, wenn Du in Rente gehst", habe er sich gedacht. 

Die kam 1995 schon schneller als erwartet, als die große Digitalisierungswelle in der Ingenieursbranche einsetzte und plötzlich tiefgreifende Fähigkeiten in computergestütztem Design gefragt waren, anstelle solider Reißbrettarbeit. Pappert erinnerte sich wieder an das Angebot, bewarb sich und bekam den Job umgehend. "Unter 25 Bewerbern haben sie mich genommen", erklärt er und lacht. Denn in Wirklichkeit hatte die ganze Zeit niemand anderes Interesse an dieser Aufgabe bekundet. Er betont die überwiegende Ehrenamtlichkeit seiner Arbeit und die damit verbundenen Freiheiten: "Ich komme morgens, wann ich will. Ich gehe, wann ich will. Und ich komme überhaupt, wann ich will: Bin aber doch einmal pro Woche da."

(Wilhelm Pappert in der DTB-Bibliothek | Bild: Markus Gilliar/GES Sportfoto)

Die Schätze der Bibliothek

Im Rahmen des Neubaus der Verbandszentrale wurde die alte, hundert Quadratmeter große Bibliothek mit abgerissen. Papperts Schätze wanderten zunächst in Kisten. In einem anderen Gebäude bekamen sie einen neuen Standort sowie einen zusätzlichen Lagerraum. Allerdings mit wesentlich weniger Fläche.

"Dort haben sie zwei Jungs vom Bundesfreiwilligendienst aus ihren Kartons befreit und zurück in die Regale befördert. Allerdings gerade so, wie sie aus den Boxen kamen. Die perfekte Ordnung aus dem alten Standort ging dabei verloren", bedauert er.

Bringschuld vs. Holschuld

Dass Ende 2020 auch noch die Zeitschrift TurnMagazin, Nachfolger der "Deutschen Turn-Zeitung", eingestellt wurde, macht Pappert traurig. Denn mit digitalen Formaten kann der Ingenieur nach wie vor nicht so viel anfangen. "Wo finde ich deren Informationen in 60, 70 oder 80 Jahren?", fragt er sich. Sicher nicht jedenfalls 175 Jahre später in den angestaubten Lederbänden einer Bibliothek. Und die Zeitung des Verbands sei zudem immer eine Bringschuld gewesen. Wenn diese nicht am 2. oder 3. eines Monats im Briefkasten gewesen sei, habe er spätestens am 5. begonnen, sich Sorgen zu machen. Bei digitalen Formaten müsse man erst einmal aktiv im Internet danach suchen, um neue Inhalte zu finden.

Das Online-Magazin

"In der Sprossenwand sind viele überfachliche Artikel. Die sind sehr, sehr gut", lobt er dennoch. Auch habe er das Gefühl, dass im Turner-Bund die Wertschätzung der eigenen Geschichtssammlung in letzter Zeit wieder steige. Und dennoch gibt es etwas, dass er konzeptionell im Unterschied zu den früheren Druckwerken in den neuen Medien vermisst: "Für mich fehlt das Turnhistorische in den modernen Produkten", sagt er mit Blick auf den Deutschen Turner-Bund und dessen ganze "Verwandtschaften" untereinander.

Pappert fehlen vor allem bleibende Informationen, was in den einzelnen Turngauen und Landesturnverbänden so passiert. "Natürlich kann man die Frage stellen, was wirklich wichtig ist. Also ich will jedenfalls alles über die Turnbewegung lesen", sagt er. Das bedeute auch, wer in welchem Turngau nun ein Amt bekleide. Wer Geburtstag habe oder verstorben sei. "Diese Dinge werden heute kaum noch abgebildet. Das ist schade", bedauert er. Mit all den Folgen, die das für eine spätere historische Betrachtung habe.

Selbst Studierende finden immer weniger den Weg in die Bibliothek. Früher habe er noch aufgeschrieben, wer über was geschrieben habe. "Die Letzte, die da war, war eine Studentin von der PH in Ludwigsburg. Sie hat eine Masterarbeit über die Entwicklung der Rhythmischen Sportgymnastik verfasst. Das war am 19. Mai 2022", erinnert er sich noch gut.

Dem Zeitgeist zum Trotz, will Pappert sich auch weiter um die Bibliothek kümmern. "Ich habe mir vorgenommen, dass ich das mache, bis ich 95 bin. Oder zumindest so lange, wie die Gesundheit es zulässt", verspricht er. Länger aber auch nicht. "Wenn die Gesundheit es einmal nicht mehr zulässt, dann bin ich auch am nächsten Tag weg", hat er sich selbst versprochen.

Ob sich dann ein Nachfolger oder eine Nachfolgerin finden wird, der Hüter der DTB-Geschichte zuckt mit den Schultern. Aber immerhin: Die Studentin hat ihre Masterarbeit tatsächlich an ihn geschickt. Pappert sieht das auch als Wertschätzung seiner Arbeit. Und so kann der Bibliothekar im Keller des Turner-Bundes ein weiteres Puzzleteil der Turnhistorie in seine Bibliothek aufnehmen und für die Nachwelt konservieren. 

AUSGABE  175 Jahre 02-2023 | Einblicke | Der Hüter der Turngeschichte
AUTOR       Nils B. Bohl