DTB-Ehrenpräsident Rainer Brechtken | Bildquelle: DTB
Einblicke

Gastbeitrag DTB-Ehrenpräsident Rainer Brechtken

212 Jahre Turnbewegung: Erfolge und Gefährdungen

1811 errichtete Friedrich Ludwig Jahn in der Berliner Hasenheide einen ersten öffentlichen Turnplatz, mit verschiedenen Turngeräten und Klettergerüsten. Er versammelte, an schulfreien Nachmittagen, Schüler aus den Gymnasien Berlins zur körperlichen Ertüchtigung. Später auch Männer aus überwiegend bürgerlichen Kreisen. Es wurden im Freien, und in aller Öffentlichkeit, für alle zugänglich, Leibesübungen ermöglicht. Es wurde der Grundstein für die zentralen Elemente unseres bis heute bestehenden Sportsystems in Deutschland gelegt: freiwilliges, selbstorganisiertes und selbstfinanziertes Sporttreiben ohne soziale Schranken.

Mit Durchsetzung des Vereinsrechts war es die Organisationsform "Verein". Die entscheidende Erkenntnis für heute ist: all unser Tun gilt der Unterstützung der Vereine. Zentrales Element ist das Ehrenamt, das durch berufliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ergänzt wird. Kennzeichen ist die gemeinsame Gesamtverantwortung. Natürlich brauchen wir im Sport aber auch bezahlte Strukturen. Es geht um einheitliche Verantwortung und nicht um den Dualismus.

Die Frage nach dem "politischen Glaubensbekenntnis"

Die Revolution von 1848 bildete den Höhepunkt einer europäischen Bewegung. Endlich sollten die großen Ziele der französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – überall in Europa umgesetzt werden. Die deutschen Turner, besonders die aus Württemberg und Baden, gehörten zu den eifrigsten Verfechtern der Revolution von 1848.

Die Gründung des Deutschen Turnerbundes am 2./3. April 1848 in Hanau war überschattet von der Frage welches "politische Glaubensbekenntnis" die Turner ablegen sollten: Ob sie für die Monarchie oder für die Republik kämpfen und ob sie sich bewaffnen und den Volksvereinen und Bürgerwehren anschließen sollten. Die Revolution wurde niedergeschlagen, aber ihre Ideale lebten in den Turnvereinen fort, die ab den 1860er Jahren wieder aufblühten. Im deutschen Kaiserreich ab 1870/71 entwickelte sich die organisierte Deutsche Turnerschaft immer mehr zu einem rechten, nationalistischen und kaisertreuen Verband. 1893 kam es zur Gründung des Arbeiterturnerbundes. Der gesamte Sport hatte sich weltanschaulich aufgespalten. Diese Entwicklung geht bis zum Kniefall der Deutschen Turnerschaft vor den Nationalsozialisten. Im Nationalsozialismus wurde der Sport gleichgeschaltet.

Sportstruktur nach 1945?

In der Zeit nach 1945 fand eine intensive Diskussion über die künftige Sportstruktur statt. Im Gegensatz zu Österreich, das die Vorkriegsstruktur weiterführte, wurde in der Bundesrepublik, mit der Gründung des DSB 1950, eine neue einheitliche Sportstruktur geschaffen. Das Prinzip: Der Sportverein bietet den Sport an. Um seine Aufgaben zu leisten hat er zwei Dienstleister. Für die überfachlichen Fragen die Sportbünde. Dabei geht es um die Gesamtkoordination, die finanziellen Rahmenbedingungen für den Sport. Verhandlungen mit der Politik. Für die fachlichen Fragen ist der Verband der jeweiligen Sportart zuständig. Dabei wird die Sportart jeweils in ihrer Ausrichtung als Spitzen-, Freizeit- und Gesundheitssport ganzheitlich gesehen. Die Fachverbände entwickeln die Sportart, sorgen im Wettkampfsport für Wettkampfsysteme, organisieren Ligen und sorgen für die Aus- und Fortbildung der Übungsleiter und Übungsleiterinnen und Trainerinnen und Trainer. Diese klare Arbeitsteilung vermeidet Doppelstrukturen. Die Ressourcen werden optimal eingesetzt. Eine positive Sportentwicklung braucht starke Vereine, starke Sportbünde aber auch starke Fachverbände. Erforderlich ist dabei ein Beitragssystem der Solidarität. Der DOSB hat dazu Beschlüsse gefasst. Diese gilt es umzusetzen. Binnenkonkurrenzen und unklare Aufgabenwahrnehmung schaden dem Sport.

Neue Aufgaben für den Sport

Heute kommen neue Aufgaben auf den Sport, insbesondere das Turnen, zu. Die Pandemie der vergangenen Jahre hat gezeigt, welche negativen Folgen der Mangel an Bewegung insbesondere für Kinder und Jugendliche hat. Im Sportverein sind überwiegend Kinder aus Familien Mitglied, die ein Bewusstsein für die Wichtigkeit der Bewegung haben. Finanzielle Gründe spielen durchaus eine Rolle.

Die Ganztagsschule und die Ganztagsbetreuung haben die Rahmenbedingungen grundsätzlich verändert. Es wird deshalb zur Aufgabe, dorthin zu gehen, wo die Kinder aller sozialen Schichten sind. Dies sind der Kindergarten und die Grundschule. Dort muss der Verein Angebote der qualifizierten Bewegung als Grundlagenausbildung anbieten. Dazu bedarf es stabiler finanzieller Rahmenbedingungen. Diese gilt es mit der Politik zu entwickeln. Diese angesprochenen Rahmenbedingungen sind wichtiger als manches sogenannte Leuchtturmprojekt, das nach kurzer Zeit vergeht. Es geht um strukturelle Veränderungen. Kurzfristige Programme führen nur zu Mitnahmeeffekten.

Die Politik ist gefragt

Die Turnbewegung hat in den über 200 Jahren Geschichte wichtige Impulse für die Sportentwicklung gegeben. Sie war immer bezogen auf die Gesellschaft. Insofern war sie immer politisch. Es ist auch eine Geschichte von inneren Kämpfen, Irrungen und Wirrungen. Die Turnbewegung nahm immer ihre soziale Verantwortung wahr. Gerade heute, in Zeiten des Umbruchs, brauchen wir eine starke Sportbewegung. Wir brauchen starke Vereine in denen Solidarität gelebt wird. Deshalb brauchen wir die Unterstützung der Politik zur Schaffung stabiler Rahmenbedingungen.

AUSGABE  175 Jahre 02-2023 | Einblicke | 212 Jahre Turnbewegung: Erfolge und Gefährdungen
AUTOR       Rainer Brechtken, DTB-Ehrenpräsident