Trainer Miloš Janeček | Bildquelle: Eintracht Frankfurt
Die Familie

Miloš Janeček - die Trainerlegende vom Riederwald

Vom "blinden Huhn" zur Integrationsfigur

Die aktuellen Bilder aus der Ukraine lassen Miloš Janeček nicht unberührt. "Bei mir kommt das alles jetzt wieder hoch. Denn ich habe es 1968 selbst erlebt, als die Russen praktisch über Nacht nach Prag kamen. Ich war 22. Für uns war das ein riesiger Schock. Das hatte niemand erwartet. Alles wurde plötzlich verboten", sagt der gebürtige Tscheche.

"Ich war jung, ich wollte etwas erleben. Da ist für mich eine Welt zusammengebrochen. Ich habe mir gesagt, ich gehe weg. Egal wohin. Ich mache alles, aber ich will leben", erinnert sich der ehemalige Leistungsturner.

Janečeks Vater, selbst Turntrainer und Übungsleiter, bestätigte den Sohn in seinem Vorhaben.

Mein Vater hat gesagt, ich kenne das. Wenn die Russen einmal kommen, dann bleiben die Jahre lang. Die kriegt man nicht mehr raus. Du hast zwei gesunde Hände, Sohn, du hast einen gesunden Verstand. Mach was draus.

So zog es Janeček erst nach Schweden, dann in die Schweiz.

"Das war sehr traurig, ich dachte, vielleicht habe ich die Eltern ja das letzte Mal gesehen", sagt er. Die ersten Jahre seien hart gewesen. "Doch Turnen, Fußball oder jeder andere Sport macht aus jemanden einen Menschen, der zu sich steht. Er will etwas erreichen", findet Janeček und landete schließlich bei Eintracht Frankfurt, wohin ihn der Kunstturner Alfred Zellekens geholt hatte.

Es war der Anfang einer über 50 Jahre währenden Beziehung zwischen dem Trainer und dem Verein, der noch immer seine große Liebe ist. "Ja, ich habe richtig gelebt. Bei der Eintracht. Das war meine Familie. Ich gehe noch immer hin und freue mich, was die da alles machen. Das ist wunderbar", erzählt er und fügt hinzu: "Wenn ich jetzt zurückblicke, ich würde es nicht anders machen wollen."

Janeček selbst kommt aus einer Sportlerfamilie, war schon mit zwei Jahren Dauergast in der Turnhalle. Doch er musste die eigene Spitzensportkarriere nach Verletzungen an den Nagel hängen. Für sich selbst entdeckte er danach eine neue Berufung. "Ich komme zwar aus dem Leistungsturnen, aber ich wollte Vereinsarbeit machen. Ein Kind war dort ein Kind. Ob Moslem oder Chinese – es waren einfach nur Kinder. Und die haben sich immer unwahrscheinlich gut verstanden. Sie haben sich bei uns wohlgefühlt", erzählt er.

Eine besondere Begabung im Umgang mit Kindern hatte "Papa Miloš" schon immer.

Geprägt wurde er aber von seinem Engagement als Turnlehrer von Kindern mit Behinderung. 1985 sei eine Sozialarbeiterin aus Oberursel zum Turnen gekommen. Sie habe erzählt, sie bräuchten in den Werkstätten jemanden, der zwei-, dreimal mit ihren Leuten arbeitet. Für Janeček eine neue Erfahrung, denn Menschen mit körperlichen oder psychischen Problemen waren in seiner Welt des perfekten Turnens bis dahin nicht präsent gewesen. "Ich komme und schau mir das mal an", habe er geantwortet und lacht. "Ich kam dahin wie ein blindes Huhn. Bis dahin kannte ich alles nur aus dem Blickwinkel der Leistung. Doppelsalto, gestreckte Arme", erklärt er.

Sein Empfang war alles andere als begeisternd. Sechs Jungs seien dagesessen.

"Nö, mit dem Arschloch turnen wir nicht",
habe gleich der Erste gesagt und alle hätten gelacht.

"Ich habe mir gedacht, wie agierst du jetzt?", sagt Janeček. Da habe ich einfach einen Handstand gemacht. Dann einen Flic Flac, dann ein Rad. Da habe der andere gesagt: "Das kann ich nicht".

Und Janeček antwortete: "Wenn Du mit dem Arschloch turnst, dann kann er dir das aber beibringen". Das Eis war gebrochen.

"Die haben dann allen erzählt, da unten ist ein Verrückter, der kann auf den Händen laufen. Und alle wollten das sehen. Ich bin die ganze Woche nur im Handstand gelaufen", lacht er. Am Ende seien es 120 Leute gewesen. 

Die Arbeit im Turnverein, sagt Janeček, habe ihn auch als Mensch stetig wachsen lassen.

"Ich bin kein Psychologe. Aber ich habe dort jeden Tag etwas Neues gelernt. Am Anfang war das für mich selbst allerdings schwierig", erzählt der gelernte Autoschlosser.

Zu der Zeit habe er drei total verschiedene Leistungsklassen im täglichen Training gehabt. "Morgens habe ich Ballfangen und Geradeauslaufen beigebracht, abends Doppelsalto gestreckt. Und nachts konnte ich nicht schlafen, weil ich das alles für mich selbst gar nicht einordnen konnte. Morgens beklatschst du, wie einer einen Ball fangen kann und abends bist du nicht zufrieden, weil einer beim Doppelsalto krumme Beine hat", erinnert er sich.

Doch Janeček ist nun einmal ein Mensch, der auch für sich selbst immer nach Lösungen sucht.

"Ich habe mich also gefragt, wie macht das jemand im Theater. Er spielt Othello, einen Mörder. Er zieht sich um, geht nach draußen, auf die andere Seite des Vorhangs, um einfach nur mit seinen Kindern zu spielen.

Der Vorhang war die Lösung", verrät er und lächelt: "Da habe ich verstanden. Ich habe mir gesagt, hier ist mein Vorhang. Ich bin nach draußen gegangen und habe gesagt, die Probleme sind jetzt auf der anderen Seite des Vorhangs. Nun bin ich ein ganz anderer Mensch", sagt er.

Geradezu legendär wurde Janeček als langjähriger Organisator des "Weihnachtsmärchens".

Dort sorgte er jedes Jahr aufs Neue für eine spektakuläre Vorführung, die Jung und Alt gleichermaßen begeisterte. "Allen Turnern, die ich hatte, habe ich eine Rolle gegeben. Das war mir wichtig", betont er. "Du kannst keinen Salto? Gut. Was kannst Du denn? Du kannst Geige spielen? Prima! Du spielst Geige. Und dann haben wir das Programm entsprechend angepasst", erzählt er. "Jeder sollte das Gefühl haben, dass er ein Teil dieses Märchens wird."

So wie beim Weihnachtsmärchen habe er es eigentlich immer gehalten, sagt Janeček. "Ich habe meine Jungs als Mannschaft betrachtet. Ich habe gesagt, auch wenn Du nicht der Beste bist, Du gehörst zu uns. Denn wenn der Junge mal ausgeschlossen wird als Kind, kommt der nie wieder", ist er überzeugt.

Das Schlimmste für ihn selbst sei dann aber gewesen, als der Chef der Werkstätten mit 65 Jahren gesagt habe, er solle in Rente gehen.

"Ich wollte noch ein bisschen bleiben. Wenigstens für 450 Euro. Aber es war ein Chef, der nur gespart und gespart hat. Und er wollte eben diese Stelle streichen", glaubt Janeček.

Daher ist nun das Wochenendhaus im Vogelsberg immer mehr in den Fokus gerückt, besonders während der Pandemiezeit. Dort steht der 75-Jährige noch immer ganz oben - auf dem Dach und erledigt Reparaturen. "Das ist so ein bisschen unsere Fluchtstätte vor Corona geworden", erklärt er.

Doch angesichts der vielen Flüchtlingskinder aus der Ukraine zieht es auch Janeček geradezu magisch wieder in die Turnhalle.

"Vielleicht werde ich noch einmal mit der Eintracht reden. Dass die Kinder einfach einmal kommen können und sich das alles anschauen", sagt er. Natürlich wisse er, dass man nur eine verhältnismäßig kleine Halle zur Verfügung habe. Die sei von morgens bis abends randvoll. Früher habe man nur Turnen gehabt. "Jetzt haben wir auch Cheerleader und was wir noch alles anbieten", sagt er.

Janeček wäre es daher auch wichtig, dass möglichst viele andere Vereine den Mut entwickeln, die Initiative zu ergreifen.

"Die Vereine müssen sich noch ein bisschen mehr öffnen und sagen, kommt her!", findet er. Auch er habe viele russische oder pakistanische Kinder gehabt. "Jedes Mal, wenn eine Flüchtlingswelle kam", sagt er. Das Kind verstehe zwar vielleicht vom Gesagten nichts, aber das sei beim Turnen egal. Es gehe um die Integration, um das Gefühl, einer großen Familie anzugehören. "Das Kind hat das Gefühl, es braucht keine Angst zu haben. Das ist schon eine wunderbare Sache. Schon allein deswegen sind die Vereine und das Turnen wichtig."

AUSGABE  Familie 02-2022 | Die Familie | Trainerlegende 
AUTOR       Nils B. Bohl