Kleiner Junge spielt mit dem Ball | Bildquelle: Pixabay
Familie

Rennen, Klettern, Toben, Rollen, Ringen, Balancieren

Bewegte Kindheit

Hunde müssen raus, rennen. Und damit das jeder Hundehalter und jede Hundehalterin auch wirklich beachtet, steht in der Tierschutz-Hundeverordnung ganz am Anfang, Hunden sei "ausreichend Auslauf im Freien außerhalb eines Zwingers zu gewähren". Kinder müssen auch raus, rennen. Für sie gibt es allerdings kein Gesetz, das ihnen dieses Bedürfnis unumstößlich als Recht zugesteht.

"Das kann doch nicht sein!", sagt Kerstin Holze. Dass Kinder ausreichend Bewegung bekommen, wird als Selbstverständlichkeit angesehen – ist es aber längst nicht mehr. Die Kinderärztin, Vorsitzende der Deutschen Kinderturn-Stiftung, Vizepräsidentin des Deutschen Olympischen Sportbundes und Mutter dreier Söhne kämpft daher wo sie kann um ein Problembewusstsein und prangert Missstände rund um die Möglichkeiten eines bewegten Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen an.

Die Zahlen sind katastrophal

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) kommt in ihrem "Global Status Report" 2022 zu dem Ergebnis, dass weltweit 88 Prozent der Mädchen und 80 Prozent der Jungen die WHO-Vorgaben von 60 Minuten Bewegung mittlerer bis hoher Intensität pro Tag nicht erfüllen. Das Bundesgesundheitsministerium ermittelte in einer Bestandsaufnahme Ende 2022 folgende Zahlen: Bei den Vier- bis Fünfjährigen erfüllten laut KiGGS- und MoMo-Studie weniger als 50 Prozent die Bewegungsempfehlungen. KiGGS ist das bundesweite, repräsentative Kinder- und Jugendgesundheitssurvey des Robert Koch-Instituts, das Motorik-Modul (MoMo) ist ein Teil der Studie. Für die Kinder zwischen sechs und zehn Jahren variierten die Zahlen von 25 Prozent (KIGGS) bis 50 Prozent (MoMo). Bei den Elf- bis 17-Jährigen seien es dagegen weniger als 20 Prozent, die die Vorgaben noch erfüllen. Für Kinder unter drei Jahren lägen nicht genügend Daten vor.

Wenn Kinder Platz und Zeit haben, rennen sie, klettern, toben, rollen, ringen, balancieren. Bewegung liegt ihnen im Blut, es ist ihre Methode, ihre Umwelt zu ergründen. Das lässt sich schon bei kleinen Babys ganz wunderbar beobachten, die, sind sie wach, selten stillhalten. Erst fuchteln sie mit ihren Ärmchen umher und zappeln mit den Beinen, dann beginnen sie ganz selbstverständlich zu rollen, zu robben, zu krabbeln, zu klettern und irgendwann ganz putzig herumzustolpern. Später braucht es nur einen Ball in einer Turnhalle oder auf einer Wiese, und kein Kind bleibt stillsitzen. Kerstin Holze sagt:

Bewegung ist für Kinder der Schlüssel zur Welt.

Die Entwicklungsneurobiologin und -psychologin Nicole Strüber erklärt es so: "Kinder müssen so wahnsinnig viel lernen in den ersten Lebensjahren." Die Welt mit all ihren Gesetzmäßigkeiten und Regeln sei schließlich totales Neuland für die Kleinen. Das gelte es zu ergründen: Zum einen physisch, da spielten so verwirrende Dinge wie Schwerkraft, Fliehkraft oder Bremsweg eine Rolle. Zum anderen sozial, da gehe es um Regeln des Miteinanders mit Artgenossen. Und zum Dritten emotional. Bewegung, begonnen auf dem Spielplatz und weitergeführt im Sportverein, ist für alle Bereiche wichtig und hilfreich. Ganz abgesehen davon, dass eine bewegte Kindheit die beste Voraussetzung ist, um auch als Erwachsener sportlicher, und damit gesünder zu leben.

Wir müssen Kinder nicht dazu motivieren, sich zu bewegen.

Doch in unserer modernen Welt unterdrücken wir zunehmend ihren naturgegebenen Bewegungsdrang. Wir engen sie ein. Sei es aus Zeitmangel, auf Grund von Platzmangel oder aus Angst, sie könnten sich verletzen oder überfordern. Der zunehmende Gebrauch elektronischer Medien ist dabei einer von vielen Faktoren. Dazu sagt Entwicklungsneurobiologin Strüber: Elektronische Medien bei den ganz Kleinen außen vor zu lassen und später bei den Größeren zu reglementieren ergebe nicht deshalb Sinn, weil Fernsehgucken oder iPad-Spielen an sich schädlich sind. Es gehe vielmehr um das, was nicht passiert, während geglotzt und gedaddelt wird. Es geht ums nicht Rennen, nicht Hüpfen, nicht Streiten, nicht mit anderen Lachen. Menschenkinder brauchen Bewegung, um gesund groß zu werden. Und sie brauchen die Liebe und Aufmerksamkeit anderer Menschen. Dann lernen sie am besten. Das alles bietet das gemeinsame Sporttreiben.

Damit das im Leben von Kindern und Jugendlichen wieder vermehrt stattfindet, damit es mit der motorischen Leistungsfähigkeit unserer Jugend, die seit 2003 auf niedrigem Niveau stagniert, wieder aufwärts gehen kann, brauche es ausreichend qualifizierte Bewegungsangebote, sagt Kerstin Holze.

Und einen bewegten Alltag.

Beides ist jedoch zu wenig vorhanden in unserer modernen Welt. Um dem Run auf Sport-Angebote für Kinder und Jugendliche gerecht zu werden, bräuchten die Sportvereine mehr Hallen und Plätze und mehr gut ausgebildete, engagierte Ehrenamtler*innen.

Einen bewegten Alltag gibt es für Kinder kaum noch, weil sie nicht mehr auf der Straße mit den Kindern aus der Nachbarschaft toben oder auf dem Bolzplatz um die Ecke kicken. Sie radeln auch kaum noch zu Freunden, zum Training, ins Schwimmbad. Sie verbringen mehr Zeit als früher in Kitas und Schulen. "Und sie führen eine Art Inselleben, sie werden passiv von einer Insel zu nächsten gebracht, anstatt sich selbstständig durch ihren Alltag zu bewegen", sagt Holze.

Auf dem Land sind die Wege oft zu weit – und in der Stadt sind sie zu gefährlich. 

Diese moderne Realität lasse sich kaum ändern, sagt Holze.

"Deshalb müssen wir Strukturen schaffen, um dem Bewegungsmangel entgegenzuwirken." Etwa mit einem Fokus auf Bewegungsangebote in der Erzieher*innen-Ausbildung. Oder mit einer Öffnung der Schulhöfe am Nachmittag. "Das sind steuerfinanzierte Bewegungsflächen, ich verstehe nicht, warum die Kindern nicht bis zum Abend zur Verfügung stehen", sagt die DOSB-Vizepräsidentin. Eine Stärkung des Ehrenamtes könnte helfen. Genauso wie Bemühungen vonseiten der Politik, der Kinderärzte und der Bildungseinrichtungen, ins öffentliche Bewusstsein zu rücken, dass Sport mehr ist als ein "nice to have". Motorische Grundlagen zu erlernen, müsste so wichtig genommen werden wie Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen.

Dazu hat Prof. Dr. Martin Engelhardt, Chefarzt am Klinikum Osnabrück, Vorstandsvorsitzender der Institute für Angewandte Trainingswissenschaften (IAT) und für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten (FES) und Präsident der Deutschen Triathlon Union eine sehr klare Meinung: "Die Lese- und Rechtschreibschwäche deutscher Kinder hängt auch mit dem mangelnden Sporttreiben zusammen", sagt er. "Wir müssen uns bewegen, um gesund zu bleiben und eine gewisse Lebensqualität zu haben. Und der soziale Aspekt darf nicht vergessen werden. Wenn das Vereinsleben im Sportklub vernünftig funktioniert, profitieren die Schwächeren, auch im schulischen Bereich. Was da an Arbeit automatisch mit geleistet wird, das könnte der Staat gar nicht bezahlen. Er sollte daher wo er nur kann das Signal geben, dass das gewünscht ist und unterstützt wird."

AUSGABE         Trends 05-2023 | Die Familie | Bewegte Kindheit
AUTORIN          Susanne Rohlfing