John Crumlish | Bildquelle: Privat
Einblicke

Gastbeitrag John Crumlish

Eine Karriere, die ich Gott, meinen Eltern und Olga Korbut verdanke

Während sich Turner, Trainer, Offizielle und Fans in der Münchner Olympiahalle zur Europameisterschaft 2022 versammeln, versetzt mich ein wundersamer Geistesblitz 50 Jahre zurück in den Moment, als die winzige 17-jährige sowjetische Turnerin Olga Korbut die Welt mit ihren fesselnden Auftritten in eben dieser heiligen Halle verblüffte, verzauberte und inspirierte.

Auch meine Karriere als Sportjournalist inspirierte Olga durch ihre physische Stärke und psychische Verwundbarkeit, Haltung und Zerbrechlichkeit, Tränen und Lächeln. Gott, meinen Eltern und Olga habe ich zu verdanken, dass ich bis heute 3,5 Reisepässe gefüllt habe, indem ich über neun Olympische Spiele, mehr als ein Dutzend Weltmeisterschaften, zahlreiche Europameisterschaften und Weltcups sowie Multisportwettbewerbe wie die Asienspiele, die Europaspiele und die Universitätsspiele berichtet habe. Und ich bin immer noch erfolgreich. 

Als 11-jähriger amerikanischer Junge, der die Spiele in München vor dem Fernseher in seinem Wohnzimmer verfolgte, hatte ich keine Ahnung, dass Olgas atemberaubende Übung am Stufenbarren im Mannschaftswettbewerb mein Leben verändern würde. Ihre waghalsige Darbietung, zu der auch ihr inzwischen legendärer Korbut-Flip gehörte, endete mit einem entwaffnenden Lächeln, das sofort ihre überschwängliche Ausstrahlung symbolisierte. 

Olgas Vermächtnis in München bestand nicht nur aus Triumphen, sondern auch aus ihrer menschlichen Fehlbarkeit, die ihren Status als Heldin und Ikone in aller Welt besiegelte. Dank ihrer Willenskraft und ihres Durchhaltevermögens überwand sie ihr olympisches Missgeschick im Mehrkampffinale, bei dem sie durch eine verpatzte Barrenübung aus dem Wettbewerb ausschied, um später in den Gerätfinals am Schwebebalken und am Boden Goldmedaillen zu erringen. Sie bezauberte Millionen von Zuschauern in aller Welt und eroberte dabei unzählige Herzen, auch meines.

Als die Spiele 1972 zu Ende gingen, setzte ich mir zwei Ziele: Erstens würde ich Olga eines Tages heiraten (ein durchaus realistisches Ziel in meiner jugendlichen Vorstellung!), und zweitens würde ich ein weltbereisender Schriftsteller werden, der sich mit den Olympischen Spielen beschäftigt. Ich habe mich nie ernsthaft im Turnen versucht ­- ich war von acht bis 18 Jahren Leistungsschwimmer - aber das Turnen wurde zu meiner Besessenheit. Voller Ehrfurcht besuchte ich drei von Olgas Tourneen in den USA und bekam dank meiner spendablen Eltern einen Platz in der ersten Reihe bei ihrer Abschiedstournee Ende 1976. 

Meine Augen und mein Gehirn verschlangen den Inhalt jeder Ausgabe des damaligen Magazins Gymnast (später in International Gymnast umbenannt), für das ich schon als Student zu schreiben begann. Ich schreibe nach wie vor für dieses Magazin, das jetzt ausschließlich auf der digitalen Plattform intlgymnast.com erscheint. 

Olgas Einfluss auf den Sport und mein Schicksal ist unermesslich und vielfältig. Ihre Menschlichkeit vermittelte mir einen neuen Blick auf die Bürger der Sowjetunion, die zu dieser Zeit im Westen noch als stoisch und bisweilen einschüchternd dargestellt wurden. Ihre Gymnastikdarbietungen, die sich durch technische Präzision und artistische Ausführung auszeichneten, motivierten mich dazu, diesen Sport zu studieren, was mir das nötige Wissen vermittelte, um professionell darüber zu berichten. Außerdem ermutigte Olga mich unwissentlich dazu, Russisch zu lernen und förderte damit meine Fähigkeit, Interviews mit russischsprachigen Athleten zu führen - ganz zu schweigen von der Aufrechterhaltung meiner karrierebegleitenden Verbindungen zu Turnern und Trainern aus den ehemaligen Sowjetrepubliken.

So wie Olga in den ausklingenden Jahren des Kalten Krieges kulturelle und sogar politische Brücken schlug und dem Turnen zu einer führenden Rolle beim Sportpublikum verhalf, half sie mir unwissentlich, meinen journalistischen Wirkungskreis zu erweitern. Bei den letzten sechs Sommerspielen war ich als Turnreporter für den Olympischen Informationsdienst tätig und auch bei drei Winterspielen habe ich über verschiedene Sportarten berichtet. Im Laufe der Jahre habe ich auch über Sportarten von Beachvolleyball bis Ringen berichtet. Aber mein journalistisches Herz gehört immer noch dem Turnen und ein Teil davon wird immer bei Olga bleiben.

Bei einem Telefongespräch mit Olga vor einigen Monaten hatte ich die Gelegenheit, sie an das Geschenk zu erinnern, das sie der Welt vor all den Jahren gemacht hat und an die Karriere, die sie - zusammen mit Gott und meinen Eltern - für mich in Gang gesetzt hat. Auch heute noch übt sie so Einfluss aus auf diesen einst 11-jährigen, aufstrebenden amerikanischen Sportjournalisten, den sie damals verzückte. Ein halbes Jahrhundert nach ihrem revolutionären Spiel von Mut, Freude und Entschlossenheit inspiriert Olga noch immer die Welt und dankenswerterweise auch mich.

John mit Olga während eines Besuchs 1989 in Los Angeles anlässlich einer Ausstellung

John Crumlish

Der Sportjournalist lebt in Los Angeles, USA und ist erreichbar per E-Mail an crumlishjohn1@gmail.com