Ariel Milanesio 2024 in Budapest | Foto: Ulrich Faßbender
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Ariel Milanesio aus Argentinien

Akrobat zwischen den Ehrenämtern

Seine Geschichte hat Ariel Milanesio "gefühlt schon tausend Mal" erzählt: Ein Stipendium führte den Studenten aus Buenos Aires nach Köln. In Deutschland erwarb er seine Trainer A-Lizenz in Rhythmischer Sportgymnastik, die er heute auf Leistungssportniveau unterrichtet. Als Kampfrichter für die RSG hat er die Olympischen Spiele in Rio (2016) und Tokyo (2020) gewertet. Und es wird auch nicht das letzte Mal sein, dass der engagierte Kampfrichter und Trainer diese Geschichte erzählen wird.

Mit "Play" fing alles an

Denn nach wie vor sind männliche Kampfrichter in dem von Frauen dominierten Sport Exoten. "Dabei war alles eigentlich ein Zufall. Ich hatte damals in Argentinien meine kleine Schwester zur RSG begleitet. Die Halle war weit weg von zu Hause, daher habe ich sie immer dorthin gebracht und gewartet, weil ich danach selbst Turnen hatte. Während ich so wartete, begann die Sportart mich total zu faszinieren. Die Trainerin, die dort arbeitete, fragte mich ziemlich bald, ob ich immer die Musik starten würde. Man könnte also sagen, meine erste Tätigkeit in der Rhythmischen Sportgymnastik war auf Play zu drücken", erinnert er sich.

Ursprünglich studierte Milanesio einmal Mathematik. "Dann dachte ich, nein, ich bin sehr engagiert und diese Sportart gefällt mir auch total gut", erzählt er. Denn bereits 1997 hatte er in Argentinien den ersten Kampfrichterschein gemacht und 1998 mit dem Studium der Sportwissenschaften begonnen. "Erst wollte ich beides studieren, Mathematik und Sport. Denn in Argentinien brauchte man nur ein Fach, nicht zwei. Aber dann bin ich beim Sport geblieben, weil der auch einfach zu viel Zeit in Anspruch genommen hat", erklärt er. Damals habe er auch seine ersten Trainerschritte unternommen. "Immer an der Seite eines erfahrenen Trainers als Co-Trainer", sagt Milenesio.

Der eigene Verein in Buenos Aires

Zwei oder drei Jahre bevor es ihn 2005 mit 28 Jahren nach Deutschland zog, gründete er in Buenos Aires einen eigenen Verein.

"Es war total schön. Aber ich hatte immer das Gefühl, dass ich mich in Argentinien nicht richtig gut entwickeln könnte", räumt er ein.

Er habe zwar an der Universität gearbeitet, doch der Job dort füllte ihn nicht aus. "Es war alles ganz gut, aber irgendwie fühlte ich, dass mir etwas fehlt. Ein bisschen Abenteuer", sagt er. 

Bonn

Die erste Zeit in Deutschland hatte er nur wenig Berührungspunkte zur RSG. Bis er nach drei Jahren dann einen Verein in Bonn gefunden habe. Der sei allerdings eher im Breitensport unterwegs gewesen. Bei seinem heutigen Verein Bayer Leverkusen dagegen gab man sich eher zurückhaltend. "Die haben alle ein bisschen skeptisch dreingeschaut und waren verhielten sich nach dem Motto, wer ist der Typ hier, was will der machen? Damals habe ich mich nicht so herzlich willkommen gefühlt", erinnert sich Milanesio mit einem Schmunzeln. Also habe er in Bonn für einen eher studentischen Lohn Gymnastinnen zwei bis dreimal die Woche trainiert.

Leverkusen

"Und dann hatte ich plötzlich mit den Gymnastinnen, die dort waren, ein wenig Erfolg. Da wurden die Leute von Leverkusen dann doch aufmerksam. Sie haben mich gefragt, ob ich nicht bei ihnen arbeiten wolle", sagt er. Milanesio gab sich nicht nachtragend und nahm seine Arbeit unter dem Bayer-Kreuz auf. Zunächst allerdings nur für wenige Stunden pro Woche.

Die Zirkusschule

Um den Rest seiner freien Zeit sinnvoll zu füllen, machte sich der RSG-Coach auf die Suche nach einem weiteren Job im Sport. Was er dabei in Köln jedoch fand, kam auch für ihn eher unerwartet: eine riesige Zirkusschule. "Die haben mich nach einem Gespräch gefragt, ob ich nicht Lust hätte, vorbeizukommen", erzählt er. Und tatsächlich fanden beide im März 2006 zusammen. "Und heute arbeite ich immer noch in dieser riesigen Zirkusschule, mit total verschiedenen Aufgaben", sagt Milanesio. Sein Bereich dort ist die Luftakrobatik. Erst als Freiberufler, später in einer Anstellung. Unter anderem leitete er eine Auftrittsgruppe und organisierte sehr viel in der Fortbildung. "Ich mache heute noch zwei Kurse mit erwachsenen Menschen dort. Und die anderen Stunden beschäftige ich mich vor allem mit der Organisation der Workshops im Zirkus und Theater", sagt er.

Und viel zu viele Ehrenämter?

Über die Jahre hat Milanesio auf seinem Gebiet so auch viele Ehrenämter angehäuft.

Viel zu viele, ehrlich gesagt. Da muss ich manchmal ein bisschen aufpassen, weil ich jemand bin, der nur sehr schlecht Nein sagen kann. Denn ich möchte immer gerne helfen, wenn ich kann.

Doch permanent an vielen Fronten gleichzeitig aktiv zu sein, sei langfristig nicht gut für die eigene Gesundheit. Deswegen versucht Milanesio mit zunehmendem Alter auch selektiver und effizienter zu agieren. Sich häufiger zu fragen, wie und wo er seine Kräfte am besten einsetzen kann. 

Sein Amt im Kampfrichterausschuss des DTB hat er daher mittlerweile aufgegeben. Die Deutsche Turnliga jedoch ist ihm weiter eine Herzensangelegenheit geblieben. "Und natürlich engagiere mich im Rheinischen Turner-Bund und auch im Internationalen Turnverband, der FIG. Da sitze ich in der Gender Equality Commission. Mal etwas ganz anderes", sagte er mit einem Augenzwinkern.

Ariel Milanesio beim DTL Finale 2023 der Rhythmischen Sportgymnastik

Hahn im Korb und Pionier

In der RSG hat Milanesio als zumeist einziger Mann bereits viele Erfahrungen auf diesem Gebiet gemacht. Der Hahn im Korb sei er dabei nie gewesen. "Ich muss sagen, am Anfang war es sogar total kompliziert. Ich kam mir da manchmal beinahe so vor, wie ein Tier im Zoo", lacht er. Bei seinen ersten Wettkämpfen als Kampfrichter auf internationaler Ebene hätten alle geschaut, was dieser Mann denn so über den Sport alles weiß. "Als ob allein der Fakt, dass man eine Frau ist, einen schon automatisch zum RSG-Experten macht. Ich musste mich komplett beweisen", erinnert er sich. Aber Milanesio sieht auch das positiv. Er habe so die Tür für viele geöffnet, die nach ihm gekommen seien. "Und die hatten es danach viel einfacher als ich. Ich hoffe, dass es nicht eingebildet klingt, aber ich fühle mich tatsächlich als eine Art Pionier. Ich musste viel kämpfen, richtig viel kämpfen", betont er.
 
Dass Milanesio elitärer Standesdünkel ebenso fremd ist wie divenhaftes Verhalten, missinterpretiert der ein oder andere Kampfrichter jedoch von Zeit zu Zeit. "Ich bin eine nette Person, bei der manche denken, da geht alles in Ordnung. Und das nervt mich. Wenn die Leute ihre Sachen einfach so wischiwaschi erledigen. Oder wenn sie denken, dass sie bei mir ja zu spät zur Kampfrichterbesprechung kommen können, drei Minuten, fünf Minuten. Nein! Das ist die Freizeit der anderen", ereifert sich der Ehrenamtler, der nach eigenem Bekunden Fragen gerne auch tausendmal beantwortet.

"Das stört mich gar nicht. Aber es muss alles in einem Rahmen von Respekt und Mitarbeit sein", fordert er.

Seine Stunden im Ehrenamt zählt Milanesio schon lange nicht mehr. Freizeit, sagte er, kenne er praktisch nicht. "Es gibt Wochen, wo unglaublich viele Sachen gleichzeitig passieren. Zum Beispiel Leverkusen. Nicht nur die Stunden, die ich dort trainiere. Ich organisiere den Wintercup. Jedes Jahr. Das sechste Mal hintereinander nun. Und dieses Jahr kommen 21 Nationen nach Leverkusen", sagt er, als sei dies eigentlich kaum denkbar. Über die Frage, wie er das alles wieder einmal hinkriegen soll, habe er sich schon häufig Gedanken gemacht. "Neben der Arbeit, neben dem Kampfrichtern, neben der DTL, neben dem Lernen organisiere ich auch diesen Wettkampf", zählt er auf. Und als wäre das alles noch nicht genug, steht in dieser Woche in Lausanne noch ein Meeting mit der Gender Equality Commission auf dem Programm.

Das schönste Ehrenamtsglück

Doch dann, sagt er, erfahre er auch immer wieder Dankbarkeit. "Ab und zu kommt das. Und das ist genau das, was das Ehrenamt bereichert", sagt er. Oder wenn es gelingt, etwas Schönes auf die Beine zu stellen. "Die Bundesliga zum Beispiel. Da haben wir über die Jahre etwas Schönes aufgebaut", findet er. Dort stehe Zusammenarbeit im Mittelpunkt, jeder versuche seinen Teil beizutragen. "Es macht mir Spaß zu sehen, wenn Sachen gut laufen. Wenn Leute versuchen, gemeinsam das Beste aus etwas herauszuholen. Und wenn sie am Ende sagen können, hey, das war jetzt wirklich ein schöner Wettkampf", beschreibt Milanesio sein persönliches Ehrenamtsglück.

Schade findet er allerdings, dass Kampfrichterei in Deutschland mit so wenig Aufwandsentschädigung vergütet wird. International ist dies nach seiner Erfahrung sehr häufig anders. "Fast überall kriegen die Leute Geld, wenn sie werten. Zumindest ein bisschen Geld", hat er bei seinen Auslandsreisen festgestellt. Ein klein wenig mehr Entlohnung würde nach Milanesios Meinung auch das Nachwuchsproblem in der deutschen Kampfrichterei zu mildern helfen. "Denn die Leute machen richtig viel. Richtig, richtig viel", weiß er um den großen Lernaufwand, insbesondere in der Ausbildung zum RSG-Kampfrichter.

Denn beherrsche man die Regeln einmal, fange der Aufwand erst richtig an. "Ich hatte einmal den Traum, Olympia zu werten. Und ich habe alles dafür geopfert. Alles. Bis ich mein Ziel schließlich erreicht habe", sagt Milanesio. Nicht einmal habe er "nein" zu einem Wettkampf gesagt, zu dem er als Kampfrichter eingeladen worden sei. Ganz gleich ob national oder international. "Ariel, kannst du mal übermorgen nach Spanien fliegen", sei er gefragt worden. Klar, habe er gesagt, und umgehend mit seinem Arbeitgeber gesprochen. 

Milanesio vergleicht die Kampfrichterkarriere in der RSG gerne mit einer Athletenkarriere. "Nur dass die Gymnastinnen oft mit 18 oder 19 Jahren aufhören und ich immer noch dabei bin", lacht er. Wer nun aber glaubt, dass dem gebürtigen Argentinier das Ganze irgendwann zu viel wird, irrt gewaltig. Seine Begeisterung ist noch genauso groß wie am ersten Tag, allen Widrigkeiten zum Trotz. "Ich habe noch immer Lust, WMs zu werten, EMs zu werten, World Cups zu werten", betont er. Auch, weil solche Wettkämpfe trotz aller Routine nie zu eben solcher werden. "Bei den ersten Übungen eines großen Events habe auch ich nach all den Jahren noch immer ein bisschen Lampenfieber. Hoffentlich klappt alles, hoffentlich erkenne ich alles, hoffentlich verpasse ich nichts", beschreibt er seine Gedanken. Dabei sei es aber nicht die Sorge um das eigene Renommee, die ihn umtreibe. "Meine Sorge ist, eine Gymnastin zu benachteiligen, weil ich abgelenkt, zu schnell oder nicht schnell genug war", sagte er.

Ariels Empfehlung an Neulinge

Doch was empfiehlt der langjährige Kampfrichter Neulingen, die sich ernsthaft mit dem Gedanken tragen, seinen Spuren zu folgen? "Stundenlang Videos anschauen. Stundenlang einfach den Code de Pointage lesen. Sich Fragen stellen. Und vor allem in die Halle zurückzukommen. Man kann nicht nur vom Lesen lernen, man muss in die Halle zurück, es ausprobieren und live erleben", sagt er.

Aber dafür werde man wenigstens auf einer ganz besonderen Ebene reichlich entlohnt. "Man wird zu einem Teil des Sports. Man wird zum Teil der Familie. Man bekommt Anerkennung von anderen Menschen, man kann diesen helfen, selbst besser zu werden. Und wenn man Glück hat und fleißig ist, kann man bei Olympischen Spielen teilnehmen und Dinge erleben, die den meisten anderen Menschen verwehrt werden", findet Milanesio.

Und, sagt er, das sei alle Mühen wert. Definitiv.

AUSGABE         Ehrenamt 05-2024 | Mehr Sport | Akrobat zwischen den Ehrenämtern
AUTOR              Nils B. Bohl