Ältere Personen mit der Kettlebell | Foto: Freepik
Fit & Gesund

Prof. Dr. Ingo Froböse im Gespräch

Kann ich beeinflussen, wie alt ich werde und wie ich alt werde?

Früher haben wir gedacht, die Gene sind der entscheidende Schlüssel für alles. Mittlerweile wissen wir, dass die genetische Ausstattung nur etwa zehn Prozent ausmacht; den Rest bestimmt der Lebensstil. Dazu sprechen wir mit Prof. Dr. Ingo Froböse, Universitätsprofessor für Prävention und Rehabilitation im Sport an der Deutschen Sporthochschule Köln.

Was genau lässt sich damit beeinflussen?

Es geht nicht nur darum, möglicherweise ein langes Leben herzustellen, sondern auch darum, wie man es lebt. In Deutschland steht das Thema Prävention eher nicht auf der Agenda. Deshalb sterben wir im Vergleich zu den Menschen in anderen mitteleuropäischen Ländern im Schnitt 1,7 Jahre früher. Der zweite Punkt betrifft die Multimorbidität, also wann chronische Krankheiten auftreten. In Deutschland haben wir ab dem 60. Lebensjahr nur noch sieben bis acht beschwerdefreie Jahre vor uns. Damit zählen wir in Europa zu den Schlusslichtern. In anderen europäischen Ländern, insbesondere den skandinavischen, aber auch in Spanien und Italien, dürfen sich die Menschen auf bis zu zehn beschwerdefreie Jahre mehr freuen. Das bedeutet Selbstständigkeit und Unabhängigkeit und das Vermeiden von Pflegebedürftigkeit.

Was machen die Deutschen falsch?

Unser Medizinsystem ist nicht auf Prävention ausgerichtet. Wir geben zu wenig Geld dafür aus. Unser System ist ein Behandlungs- und kein Handlungssystem. Die ganze Last liegt zudem auf den gesetzlichen Krankenkassen. Aber Prävention gehört in die Bildung, in die Schulen, in die Universitäten, in die Ausbildung, in die Berufskollegs. Doch da findet sie nicht statt. Auch in den Unternehmen und den Pflegeheimen gibt es dazu zu wenige Aktivitäten. 

Was könnte das Individuum tun, um unabhängig vom System seinen Lebensstil zu verbessern? 

Es muss etwas tun. Wir sollten alle Verantwortung für uns selbst übernehmen. Ich finde es unverständlich, wie Menschen mit sich selbst umgehen.

Ein Beispiel: Wir wissen, dass Essen Spuren hinterlässt. Der Körper braucht Stoffe, die er nutzen kann, und das kann man nicht dem Zufall überlassen. Das Allerwichtigste ist also erst mal, dass man die Qualität der Nahrungsstoffe optimiert und sich ausgewogen ernährt. Aus einer Chipstüte kann der Körper nichts machen, genauso wenig wie aus einem Salatblättchen. Er braucht die drei großen Makronährstoffe (Kohlenhydrate, Proteine, Fette, Anm. d. Red.) in einer vernünftigen Qualität. Ich sollte industrieverändertes Food vermeiden.

Wir können nicht erwarten, dass eine Pizza für 1,80 Euro uns vernünftig versorgt. Wir in Deutschland geben viel zu wenig Geld für Ernährung aus. Ich komme gerade aus Italien. Dort gibt man 30 Prozent des Einkommens für die Ernährung aus. Bei uns in Deutschland liegt man unterhalb von zehn bis 15 Prozent. Ernährung hat bei uns keine Bedeutung. Natürlich spielt auch die Menge eine Rolle.

Aber wenn du gute Qualität zu dir nimmst, isst du auch weniger.

Was sollte man beim Essen noch beachten?

Bitte iss langsam.

ToGo-Mentalität gehört nicht zu einem gesunden Lebensstil. In Italien würde niemand einen Espresso im Gehen trinken aus einem Pappbecher mit so einer Plastikschnute dran. Die Italiener stellen sich für eine Minute an die Bar, trinken aus einer Porzellantasse, quatschen drei Sätze mit dem Barista, und dann gehen sie wieder.

Nimm dir Zeit. Setz dich am besten hin und zelebriere dein Essen. 
 

Was gehört sonst noch zu einem gesunden Lebensstil?

Natürlich die körperliche Aktivität. Da gilt das klassische Motto:

Nur was genutzt wird, entwickelt sich, was ungenutzt bleibt, das verkümmert.

Ich werde oft gefragt, welche Art von Bewegung ich Kindern empfehlen würde, und das ist das Turnen. Das ist die beste Grundausbildung, die Kinder erfahren können. Hier wird die Basis gelegt für all das, was später mal an körperlicher Aktivität kommt. Die Kinder lernen hüpfen, springen, drehen, rollen, ziehen, tragen, alles. Genau das ist es, was Kinder brauchen, eine vielfältige, umfängliche Ausbildung. Daraus entwickelt sich dann eine gewisse Körperlichkeit und Achtsamkeit. Alle, die geturnt haben, werden durch diese frühe Schulung und Basis auch im höheren Alter vernünftig mit sich selbst umgehen. Körperliche Aktivität ist der Motor für Wachstum, der Motor für Entwicklungsprozesse, der Motor für Lernprozesse und sogar für Persönlichkeitsentwicklungen. Wir lernen, mit Niederlagen und Siegen umzugehen, Resilienz, Respekt, Toleranz. Wir lernen soziale Komponenten, kommen aus der Isolation heraus, haben Erfolgserlebnisse, und wir wachsen an diesen Dingen. Darauf kann ich aufbauen und später eine Lifetime-Sportart finden. Ich werde merken, dass körperliche Unterforderung ein Stressor ist, den es dringend zu vermeiden gilt. Die Bindung an meinen Sport garantiert mir Lebensqualität bis ins hohe Alter, denn viele Krankheiten wie Diabetes, Rückenschmerzen, Bluthochdruck oder Hypercholesterinämie tauchen nicht auf, wenn ich mich muskulär aktiviere.

Was verpasst man, wenn man nach einer bewegten Kindheit irgendwann mit dem Sport aufhört?

Wir beklagen immer, dass Kinder aussteigen. Aber vielleicht macht der Sport da Fehler. Würden wir es schaffen, eine Bindung herzustellen, würde so ein Ausstieg vielleicht nicht passieren. Natürlich gibt es Sollbruchstellen wie Schulwechsel, Pubertät, Studium, Wohnortwechsel. Aber wenn ich Bindung geschaffen habe zu einer körperlichen Aktivität oder zu einer Sportart, dann verliere ich die Leute trotzdem nicht. Wenn der Sport zu ihnen gehört, geben sie ihn nicht auf. Das ist es, was wir schaffen müssen. Eine Teilschuld besteht auch bei den Familien, weil uns die Vorbilder verloren gegangen sind. Sport muss gefördert werden von den Eltern. Kinder brauchen Unterstützung. Und sie sollten auch anderes als Fußball probieren. Denn wenn sie es dort nicht schaffen, landen sie wieder frustriert zu Hause und sind für den Sport verloren. Dagegen müssen sich andere Sportarten vernünftig positionieren. 

Was verpasst der Mensch, wenn er sich nicht bewegt?

Er wird früher krank, verliert seine Fähigkeiten, gegen Krankheiten resilient zu sein. Thema Diabetes Typ 2: Das ist eine Muskelschwunderkrankung. Wir haben da auf der Seite des Energieverbrauchs zu wenig Muskelmasse, die den Zucker auffrisst.

Das verändert sich natürlich durch Sport.

Wir haben mit ausreichend Bewegung aber auch weniger psychische Erkrankungen. Wenn Menschen sich geistig überfordert fühlen, sind sie das oft, weil sie körperlich unterfordert sind.

Spielt es eine Rolle, welchen Sport ich treibe? 

Die Körperzelle weiß nicht, was ich tue. Sie weiß nur, mein Besitzer ist aktiv. Was ich tue, weiß nur der Kopf. Im Kindes- und Jugendalter sollte ich alles ausprobieren. Aber wenn ich ins Erwachsenenalter komme, geht es um zwei Komponenten. Zu der einen gehören alle Ausdauersportarten wie Laufen, Radeln, Schwimmen, Nordic Walken, egal was, Hauptsache eine längere Belastungszeit. Dadurch werden die Gefäßelastizität und alle Funktionen von Lunge und Herz optimiert. Der zweite Bereich betrifft das größte Stoffwechselorgan, die Muskulatur. Da reichen Laufen, Radeln, Schwimmen nicht. Ab dem 50. Lebensjahr wird das Muskeltraining noch wichtiger, weil ich dem altersbedingten Verlust der Muskulatur entgegenwirken muss.

Wie sieht dieses Training aus?

Erst mal gibt es die klassischen Kursangebote, auch für zu Hause, wie Yoga, Tai Chi, Qigong, Pilates, Gymnastik oder Funktionsgymnastik. Training mit dem eigenen Körper. Damit sollte man so früh wie möglich anfangen. Aber irgendwann muss ich auch ans Eisen. Je älter ich werde, umso wichtiger werden Zusatzbelastungen, um die Muskulatur zu reizen und in Gänze auszubilden.

Gibt es dabei Unterschiede, was Männer und Frauen angeht?

Herz-Kreislauf-Training kann man sehr schön gemeinsam absolvieren. Da ist das Motto: Je länger, umso besser, und das Tempo ist gar nicht so entscheidend. Wichtig ist, dass die Geschwindigkeit so gewählt wird, dass ausreichend Sauerstoff zur Verfügung steht. In Familien kann man dank technischer Hilfsmittel zusammen Radfahren, wenn man unterschiedliche Leistungsfähigkeiten hat. Beim Muskeltraining gibt es Unterschiede. Bei den Frauen heißt das, mehr Wiederholungen, weniger Belastungsspitzen, und bei Männern mehr Belastungsspitzen und weniger Wiederholungen. Da werden andere Gewichtsbelastungen benötigt, um Anpassungen zu erzielen. Männer haben zehn bis 15 Prozent mehr Muskelmasse.

Lässt sich Verpasstes nachholen? 

Das ist das Schöne, denn ja, ich kann das nachholen. Je älter ich werde, umso mehr muss ich allerdings tun, um die frühere Leistungsfähigkeit wiederherzustellen. Wenn der Körper schon mal etwas gemacht hat, erinnert er sich daran. Ich bin dann schneller wieder der oder die Alte, muss natürlich meinem Alter ein wenig Tribut zollen.

Aber die Botschaft ist eindeutig: Ich kann, egal, in welchem Alter, innerhalb von zwölf Monaten meine Muskelkraft um 100 Prozent steigern, egal ob ich 30 bin oder 80. Der Körper kann Veränderungen immer wieder annehmen und tolerieren. Er braucht einen Reiz, dann passt er sich ein Leben lang an. Es ist also nie zu spät, um mit Fitness zu beginnen.

Welche Rolle spielt die Regeneration?

Sportler werden nur durch Pausen richtig gut. Je älter ich werde, umso mehr Pausen brauche ich. Kinder sind wie Duracell-Häschen, die haben immer Energie. Aber Pausen brauche ich, um Anpassungsprozesse zu ermöglichen. Das bedeutet, viel hilft nicht viel, sondern es kommt auf die richtige Dosierung an, und die verändert sich im Alter, weg von der Menge hin zur Intensität. Nur wenn die Pause zur Belastung passt, wird sie mich weiterbringen. Wenn ich einmal in der Woche zu einem Sportkurs im Verein gehe, ist das zu wenig. Ich brauche dreimal in der Woche eine Herz-Kreislauf-Belastung, und ich brauche mindestens zweimal pro Woche eine Muskelbelastung, um wirklich einen Effekt zu erzielen.

Viele Leute machen zu viel, wenn sie irgendwann mal was machen, oder?

Viele Menschen meinen, viel hilft viel. Aber beim Herz-Kreislauf-Training ist immer das Gefühl der subjektiven Unterforderung das richtige. Ruhig, moderat, sauerstoffreich. Ab und zu kann ich mal einen kleinen Gang zulegen, aber 80 Prozent des Trainings sollte ruhig stattfinden. Das Muskeltraining sollte intensiver sein, je älter ich bin. Viele Menschen wollen ihre Gelenke schonen, aber genau das ist verkehrt. Natürlich muss man den Körper erst mal warmlaufen lassen, trainierbar machen. Erst nach drei bis vier Monaten ist der Körper auf einem vernünftigen Niveau. Wenn du heute direkt durchstarten möchtest wie vor 20 Jahren, dann geht das schief. Die passiven Systeme wie Bänder, Sehnen, Gelenke brauchen drei bis vier Monate, um sich an das aktive neue Leben zu gewöhnen. Erst dann bist du in der Lage, ein regelmäßiges geplantes Training durchzuführen.

Können Menschen, die vorher nie trainiert haben, noch ein Körpergefühl entwickeln?

Ja, aber dafür brauchen sie Hilfsmittel. Beim Herz-Kreislauf-Training beispielsweise eine normale Uhr.  An der Herzfrequenz sehe ich, wie mein Körper auf die Belastung reagiert. Die obere Grenze der Belastung sollte immer bei 180 minus Lebensalter liegen. Wenn ich drüber bin, muss ich langsamer laufen. Dann sollte ich nach einer Belastung morgens vor dem Aufstehen meine Ruhe-Herzfrequenz messen. Das sagt mir, ob ich am Abend zu intensiv trainiert habe. Wenn ich das eine Woche lang mache, weiß ich so ungefähr, wo die Frequenz liegt. In Deutschland im Schnitt bei 61,7 Schlägen. Wenn sie sich verändert, habe ich am Abend vorher zu viel trainiert.

Kann ich auch ohne Uhr ein Gefühl für die richtige Belastung bekommen?

Wenn ich eine Ausdauerbelastung mache wie Nordic Walking oder Walking, kann ich auf meine Atmung achten: Vier Schritte einatmen, vier Schritte ausatmen, dann bist du immer im richtigen Rhythmus, nicht unter-, aber auch nicht überfordert. Probier's mal mit drei Schritten, dann wirst du sehen, du bist relativ schnell ermüdet. So lernt man sich und seinen Körper ein wenig kennen.

Wie dosiert man beim Muskeltraining?

Da würde ich erst einmal über Wiederholungszahlen gehen. Lass dir nicht das Gewicht von außen vorsagen, sondern du entscheidest. Wähle dir ein Gewicht, das du etwa zwölf- bis 15-mal schaffst. Bei der letzten Wiederholung solltest du schon eine erschöpfte Muskulatur verspüren. Das muss man ausprobieren. Weil man besser wird, muss man irgendwann Gewichtsveränderungen vornehmen. Bist du nach sechs Wochen nicht besser geworden, hast du was falsch gemacht, war der Trainingsreiz wahrscheinlich zu niedrig. Wenn man so Körpergefühl entwickelt, wird man es nicht mehr wieder los. 

Schaffe ich das alleine oder brauche ich Hilfe?

Ich würde mir wünschen, dass gerade Anfänger Unterstützung haben, technische, aber auch einen Coach, und da sind unsere Übungsleiter oder Sportlehrer genau die Richtigen. Anfänger kennen die Bewegungen nicht, wissen nicht, wie sie stehen, sitzen, hängen sollten.

In Ihrem Buch "Die Gesundheitsformel der Hundertjährigen" schreiben Sie von sieben Schlüsseln für ein langes Leben. Was zählt neben Bewegung und der gesunden Ernährung noch dazu?

Der größte Gegner der Gesundheit und der Lebensqualität ist die soziale Isolation. Das Eingebundensein in eine Struktur, Familie, Freunde, Freundinnen, Sporttreibende, eine Gruppe, das alles hat schon sehr, sehr viel Bedeutung. Dann ist da noch der Optimismus, die positive Einstellung zum Leben, auch wenn schon die ersten Probleme eingetreten sind.

Glücklichere Menschen leben länger. Auch ein bisschen Spiritualität hilft, geistige Zuordnung und damit ein gewisses Vertrauen in die Welt, in das Menschsein, in sich selbst und auch in Mächte, die wir nicht gut kontrollieren können. Der Glaube, ohne dass ich damit Religion meine. Zu einem aktiven Leben gehört auch, irgendetwas dauerhaft zu machen, Hobbys oder eine Aufgabe zu haben, aber auch neugierig zu bleiben, zu reisen, immer wieder etwas Neues auszuprobieren.

Gibt es sonst noch etwas, was Sie beim Thema "Prävention" gerne erwähnen würden?

Ich würde den Menschen gerne mitgeben:

Niemand hat Interesse daran, dass sie gesund und fit und leistungsfähig bleiben, außer ihnen selbst.

Diesen Satz müssen sie alle verstehen und lernen, in ihrem Sinne zu handeln, und sich Leute suchen, die sie dabei unterstützen.

Zur Person

Ingo Froböse (* 18. März 1957 in Unna) ist ein deutscher Sportwissenschaftler und Ratgeberautor. Er ist Universitätsprofessor für Prävention und Rehabilitation im Sport an der Deutschen Sporthochschule Köln

Ingo Froböse, über sich

"Seit frühester Kindheit brenne ich für Bewegung und Sport und habe das große Glück, dass meine Passion zu meinem Beruf geworden ist. Als Wissenschaftler habe ich so zu meiner Leidenschaft gefunden, andere mit diesem 'Virus' anzustecken – für mehr Wohlbefinden und Lebensqualität! In Bewegung zu sein und zu bleiben prägt meinen beruflichen und privaten Alltag bis heute. Doch wer mich kennt, weiß, dass ich dabei zum Glück nie verlernt habe, richtig zu genießen: Schwarzwälder Kirsch Torte, Tiramisu mit Mascarpone und ab und zu auch ein guter Wein."

AUSGABE        Prävention 04-2024 | Fit & Gesund | Interview Prof. Dr. Ingo Froböse
Das Interview führte Katja Sturm